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Dissoziative Amnesie nach dem ICD-10
Das wichtigste Kennzeichen ist der Erinnerungsverlust für meist wichtige, kurz zurück liegende Ereignisse, der nicht durch organische psychische Störungen bedingt und zu schwerwiegend ist, um durch übliche Vergesslichkeit oder Ermüdung erklärt werden zu können.
Die Amnesie zentriert sich gewöhnlich auf traumatische Ereignisse wie Unfälle oder unerwartete Trauerfälle und ist in der Regel unvollständig und selektiv. Ausmaß und Vollständigkeit der Amnesie variieren häufig von Tag zu Tag und bei verschiedenen Untersuchern. Es lässt sich aber ein beständiger Kern feststellen, der im Wachzustand nicht aufgehellt werden kann. Eine vollständige und generalisierte Amnesie ist selten, dann gewöhnlich Teil einer Fugue (Umherirren mit Erinnerungslosigkeit) und ist dann als solche zu klassifizieren.
Die affektiven Erscheinungsbilder in Verbindung mit einer Amnesie sind unterschiedlich, eine schwere Depression ist jedoch selten. Ratlosigkeit, Gequält sein und Aufmerksamkeit suchendes Verhalten unterschiedlichen Ausmaßes, aber auch ruhiges Annehmen können vorkommen. Junge Erwachsene sind am häufigsten betroffen.
Die schwersten Fälle treten bei Männern auf, die unter der Belastung von Kampfhandlungen stehen. Psychogene dissoziative Zustände sind bei Älteren selten. Zielloses Umherwandern kann auftreten; es geht in der Regel mit persönlicher Vernachlässigung einher und dauert selten länger als ein oder zwei Tage.
Diagnostische Leitlinien
l Partielle oder vollständige Amnesie für kürzliche traumatisierende oder belastende Ereignisse (diese Aspekte werden unter Umständen nur durch fremdanamnestische Angaben bekannt);
l Fehlen von hirnorganischen Störungen, Intoxikation oder extremer Erschöpfung.
Differentialdiagnose:
Bei organisch bedingten psychischen Störungen finden sich in der Regel auch andere Störungen des Nervensystems und deutlich erkennbare beständige Symptome von Bewusstseinstrübung, Desorientiertheit und fluktuierender Bewusstseinsklarheit.
Ein Verlust des Kurzzeitgedächtnisses ist typischer für organisch bedingte Störungen, unabhängig von möglichen traumatischen Ereignissen oder Problemen. "Black outs" nach Alkohol- oder Drogenkonsum sind zeitlich eng mit dem Missbrauch verbunden, und die verlorenen Erinnerungen können niemals wiedergewonnen werden.
Ein Verlust des Kurzzeitgedächtnisses wie beim amnestischen Syndrom (Korsakow-Syndrom), bei dem die unmittelbare Wiedergabe normal, die Wiedererinnerung aber schon nach 2 oder 3 Minuten nicht mehr möglich ist, findet sich bei der dissoziativen Amnesie nicht.
Eine Amnesie nach Commotio cerebri oder schwerem Schädeltrauma ist meistens retrograd, obwohl in schweren Fällen auch eine anterograde Amnesie auftreten kann; eine dissoziative Amnesie ist überwiegend retrograd. Nur die dissoziative Amnesie kann durch Hypnose oder Abreaktion verändert werden.
Postiktale Amnesien bei Epileptikern und andere stuporöse oder mutistische Zustände, die gelegentlich bei Schizophrenen oder Depressiven vorkommen, können im allgemeinen durch andere Charakteristika der zugrundeliegenden Krankheit differenziert werden.
Am schwierigsten ist es, eine bewusste Simulation der Amnesie auszuschließen; eine wiederholte und genaue Untersuchung der prämorbiden Persönlichkeit und einer möglichen Motivation ist notwendig. Eine bewusst simulierte Amnesie hängt gewöhnlich mit offensichtlichen finanziellen Problemen, Lebensgefahr in Kriegszeiten oder drohender Todes- oder Gefängnisstrafe zusammen.
Ausschluss:
l amnestisches Syndrom, durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt
l anterograde Amnesie
l nichtalkoholbedingtes organisches amnestisches Syndrom
l postiktale Amnesie bei Epilepsie
l retrograde Amnesie
Dissoziative Amnesie nach den Forschungskriterien des ICD
l Die allgemeinen Kriterien für eine dissoziative Störung müssen erfüllt sein.
l Entweder eine teilweise oder vollständige Amnesie für vergangene Ereignisse oder Probleme, die traumatisch oder belastend waren oder noch sind.
l Die Amnesie ist zu ausgeprägt und zu lang anhaltend, um mit einer normalen Vergesslichkeit oder durch eine gewollte Simulation erklärt werden zu können (die Schwere und das Ausmaß der Amnesie können allerdings von einer Untersuchung zur anderen wechseln).
Dissoziative Fugue nach dem ICD-10
Eine dissoziative Fugue ist eine zielgerichtete Ortsveränderung von zu Hause oder vom Arbeitsplatz fort, wobei die betreffende Person sich äußerlich geordnet verhält. Zusätzlich liegen alle Kennzeichen einer dissoziativen Amnesie vor.
In einigen Fällen wird eine neue Identität angenommen, im allgemeinen nur für wenige Tage, aber gelegentlich auch für lange Zeiträume und erstaunlich vollständig. Es kann eine Reise zu früher bekannten Plätzen und Orten mit gefühlsmäßiger Bedeutung erfolgen. Obwohl für die Zeit der Fugue eine Amnesie besteht, kann das Verhalten des Patienten während dieser Zeit auf unabhängige Beobachter vollständig normal wirken.
Diagnostische Leitlinien
l Kennzeichen der dissoziativen Amnesie;
l zielgerichtete Ortsveränderung über den üblichen täglichen Aktionsbereich hinaus (die Unterscheidung zwischen einer zielgerichteten Ortsveränderung und ziellosem Umherwandern muss von Personen mit Ortskenntnissen getroffen werden);
l Aufrechterhalten der einfachen Selbstversorgung (Essen, Waschen) und einfacher sozialer Interaktionen mit Fremden (wie Kauf von Fahrkarten oder Benzin, Fragen nach Richtungen, Bestellen von Mahlzeiten usw.).
Differentialdiagnose:
Die Unterscheidung gegenüber einer postiktalen Fugue, besonders bei Temporallappenepilepsie, ergibt sich meist eindeutig aus der Epilepsie Anamnese, dem Fehlen von belastenden Ereignissen oder Problemen und dadurch, dass die Aktivitäten und Reisen des Epileptikers weniger zielgerichtet und fragmentarischer sind. Wie bei der dissoziativen Amnesie kann die Unterscheidung von bewusster Simulation einer Fugue sehr schwierig sein.
Fugue nach den Forschungskriterien des ICD-10
l Die allgemeinen Kriterien für eine dissoziative Störung müssen erfüllt sein.
l Eine unerwartete, gleichwohl äußerlich normal organisierte Reise mit Entfernung von zuhause oder vom gewohnten Arbeitsplatz und den sozialen Aktivitäten; während dieser Zeit bleibt die Selbstversorgung weitgehend erhalten.
l Entweder teilweise oder vollständige Amnesie für die Reise, die das Kriterium C. für eine dissoziative Amnesie erfüllt.
Alles was entsteht ist wert, dass es zu Grunde geht.