Community
Szene & News
Locations
Impressum
|
Forum / Poesie und Lyrik
Ohne Worte

Morrigane
Profi
(offline)
Dabei seit 07.2006
955
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 22:30 Uhr
Zuletzt editiert am: 24.09.2011 um 00:49 Uhr
|
|
5.
Am Morgen danach schaute sie aus dem Fenster, denn sie wollte ihn nicht ansehen, weil ihr Blick ihn vermutlich geweckt hätte.
Es war ein heller, grauer Morgen, im Laufe das Tages würde der Himmel weiß werden, ohne dass sich je die Sonne zeigen würde.
Sie fror, weil sie ihm beim Aufstehen die Decke überlassen hatte, und wollte sich dennoch nicht anziehen, weil das Frieren zu einem solchen Morgen passte.
Es war nicht irgendein ein neuer Morgen, sondern es war einer DIESER Morgen.
Er gehörte einer Kategorie von Tagen an, hatte also aufgehört, für sich alleine und unverwechselbar zu sein.
Sie hatte Morgen wie diesen schon erlebt und sie gehörten alle zu Tagen, die an irgendeiner Stelle einen Bruch im Bewusstsein zur Folge hatten.
Diesmal kam dieser Bruch unmittelbar mit der Feststellung, dass sie Morgen wie diese schon erlebt hatte.
Sie war schon früher lange vor ihm aufgewacht und hatte im aufkeimenden Licht des Himmels gesessen, in Gedanken versunken.
Es war eine Wiederholung dieser Situation, eine leichte Variation, aber sie genügte um festzustellen, dass ihre Liebe plötzlich, von einem Tag auf den anderen, eine Vergangenheit bekommen hatte.
Am Anfang ist jeder Tag einer Liebe unverwechselbar.
Sie waren wie zwei Wanderer gewesen, die sich in einem unberührten Wald Wege durch das Dickicht schlugen.
Es war gefährlich und aufregend.
Aber mit jedem Mal, das sie durch den immer gleichen Wald liefen, wurde der Boden unter ihren Tritten härter. Sie wichen den Orten aus, von denen sie wussten, dass wilde Tiere sie bewohnten.
Der Trampelpfad durch den Wald wurde breiter und die Pflanzen wichen von ihm.
Sie verirrten sich nur noch selten in ihrem Wald und die Sackgassen und Abzweigungen wucherten zu. Als sie an diesem Morgen aufwachte, hatte irgendein Vollidiot den Trampelpfad mit Zement und Teer in einen anständigen, fast schon bürgerlichen Weg umgewandelt.
Und sie konnte schon voraussehen, wie derselbe Vollidiot zusammen mit seinen Kumpels eines Tages aus dem Weg eine Straße und dann eine Autobahn bauen würde.
Der Vollidiot war die Zeit.
Eines Tages würde die Zeit das erste Schnellrestaurant an der Straße eröffnen.
Die Straße würde so breit und so befahren werden, dass es unmöglich werden würde, von der einen Seite des Waldes auf die andere zu gelangen.
Und nach und nach würden sie den Wald mit allen seinen Heimlichkeiten, Wegen und Verstecken vergessen, weil sie nur noch auf der einen Straße entlang fuhren.
Sie würden beim Autofahren daran denken, wie sie damals hier umhergeirrt waren, und es würde ihnen einen leichten Stich geben.
Die Straße, die sie verbinden sollte, würde sie dann voneinander trennen.
Und genau das war das Problem an einer Vergangenheit. Eine Vergangenheit war eine festgefahrene Gegenwart.
Indem Moment, indem man von einer Vergangenheit sprechen konnte, war die Gegenwart nicht mehr intensiv genug, um einen kontinuierlich zu beschäftigen.
Nach und nach kämen zu der Vergangenheit die Tradition und ihre fiese Stiefschwester, die Routine.
Das war der Wurm, der an diesem Morgen fraß.
Und es war ein Problem der Zeit, ein Problem der Uhren, die nur im Kreis laufen wollten. Aber wenn sich der Ort schon nicht ändern konnte, dachte sie, wäre es dann möglich, dass sich die Personen verändern konnten?
Man kann ein Bild überkleben, übermalen, Fetzen herausschneiden oder neu malen. Warum, dachte sie, warum nicht?
Warum ein Bild nicht mehrfach malen, wenn es ein schönes Bild ist? Warum eine Geschichte nicht einfach beenden, wenn es eine schöne Geschichte ist und sie ein schönes Ende verdient?
Offene Enden schreibt das Leben.
Nur der Mensch kann sie zu geschlossenen Enden machen.
Und zum ersten Mal in all der Zeit küsste sie ihn auf die Stirn.
Er wachte nicht auf. Dabei hätte er ahnen können, dass ein Stirnkuss in der Übersetzung "Abschied" bedeutete.
Er wusste nicht, wo sie wohnte und somit war die Flucht eine leichte.
Lecker Senf für alle!
|
|
Morrigane
Profi
(offline)
Dabei seit 07.2006
955
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 22:38 Uhr
Zuletzt editiert am: 24.09.2011 um 00:50 Uhr
|
|
6.
Epilog
"Kennst du mich?
Ich bin mit dir gelaufen, als es noch ein wenig dunkler und kälter war.
Ich muss zugeben, dass ich immer noch keinen Namen habe, aber wenn du mich findest, darfst du mir einen geben und dann möchte ich hören, wie deine Stimme klingt.
Ich schreibe dir dies, damit du mich suchen kannst, wenn du magst, aber wenn du mich gefunden hast, werden wir uns nicht berühren, außer mit Blicken.
Ich möchte, dass immer ein Teil von uns brach liegt, dass es immer etwas an dir geben wird, das ich vermisse, so wie ich im Sommer den Schnee vermisse und im Winter das Wasser, das klare kühle Wasser.
Aber zunächst wirst du mich suchen müssen. Das wird nicht schwer sein.
Du wirst mich im Wald finden, wenn du willst."
Lecker Senf für alle!
|
|
I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
(offline)
Dabei seit 06.2005
1618
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 22:49 Uhr
|
|
Ich glaube ja mittlerweile, dass Frauen gar nicht lieben können. Immerzu ein Küken sein, immerzu das Kind so frei raus aus der Eierschale, das umherblickt, sich für etwas interessiert, aber beim erneuten drehen des Kopfes schon wieder was anderes Interessantes findet.
Und jeder noch so starke Naturliebende wird hier aufstehen: "Ha, jetzt weiß ich, wieso ich Autobahnen nicht mag."
Man sollte sie doch gerade hierfür hängen, diese Ketzerin und Schweigende, Hexerin und ins Dunkle Treibende. Dennoch genial, so unschuldig, so frei, ... Eine geheimnislose Verbindung aus Zwang, die schon von Anfang an darum kämpfen muss, nicht zu zerbrechen.
Liebe ist ein Schuss, eine unaufhaltbare Kugel, freigesetzt durch ein kurzes Klicken. Es ist aber ebenso ein Kompromiss, und als letztes eine Entscheidung. Mein Vater sagte schon, dass er ja nicht wisse, warum es die Natur so eingerichtet hatte, dass treue Wesen immer leiden müssen.
Und Mister Piratenflagge redet von einem Groschenroman. Nun, man bezahlt hier ja nichtmal einen Groschen, das Werk ist Open Source, aber dennoch ein viel größeres Geschenk als man mit harter Arbeit oder Groschen auch erkaufen kann.
Die emanzipierte Frau... Früher hat man sie in einen Turm gesperrt, wenn sie anfing, zu spinnen...
Liebe ist eine Entscheidung, in der man, sobald ein gewisser Punkt überschritten ist, gar nicht mehr daran denken sollte, die Seelen zu trennen, denn irgendein Herz wird es dabei zerreißen.
Ist das Schweigen hiermit vorbei, Morrigane?
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
|
|
I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
(offline)
Dabei seit 06.2005
1618
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 22:59 Uhr
|
|
Zunächst einmal muss man ja sagen, dass du den Vorhang auf eine interessante Art schließt. Wie du unschwer erkennen kannst, ging ich von einem Ende nach Teil 5 aus.
Die kriminalistische Frage hier lautet doch: Wer schreibt nun?
Hat die Dame dann doch irgendwann erkannt, dass es falsch war, weil sie ja mit ihrer Idee, sich nackt ins Bett zu legen, die tiefen Berührungen hervorgerufen hat.
Ich glaube ja, dass du es absichtlich so offen lässt, um den Leser rätseln zu lassen.
Zwar verdirbst du mit dem Epilog den Titel, aber gibst der Liebe eine weitere Ebene der Mystik.
Auch einen kleinen Trick verwendest du im letzten Satz, erinnerst den Leser an Teil 5 mit dem Wald der Geheimnisse. Man kann es also auch verstehen als: "Du findest mich bei meinen größten Wünschen" oder: "Du findest mich bei meinen schlechte Gewohnheiten".
Ich tendiere dennoch zum Mann, dass er der Schreiber ist. Ich denke nicht, dass die Frau sich so herablassen würde und "wenn du magst" schreibt.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
|
|
Morrigane
Profi
(offline)
Dabei seit 07.2006
955
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 23:31 Uhr
Zuletzt editiert am: 10.12.2010 um 23:31 Uhr
|
|
Zitat von I3I_4CKNINJ4: Zunächst einmal muss man ja sagen, dass du den Vorhang auf eine interessante Art schließt. Wie du unschwer erkennen kannst, ging ich von einem Ende nach Teil 5 aus.
Die kriminalistische Frage hier lautet doch: Wer schreibt nun?
Hat die Dame dann doch irgendwann erkannt, dass es falsch war, weil sie ja mit ihrer Idee, sich nackt ins Bett zu legen, die tiefen Berührungen hervorgerufen hat.
Ich glaube ja, dass du es absichtlich so offen lässt, um den Leser rätseln zu lassen.
Zwar verdirbst du mit dem Epilog den Titel, aber gibst der Liebe eine weitere Ebene der Mystik.
Auch einen kleinen Trick verwendest du im letzten Satz, erinnerst den Leser an Teil 5 mit dem Wald der Geheimnisse. Man kann es also auch verstehen als: "Du findest mich bei meinen größten Wünschen" oder: "Du findest mich bei meinen schlechte Gewohnheiten".
Ich tendiere dennoch zum Mann, dass er der Schreiber ist. Ich denke nicht, dass die Frau sich so herablassen würde und "wenn du magst" schreibt.
Nein, hierbei weiß ich sicher, dass es die Frau ist. Denn um ihr schreiben zu können, muss er sie erst einmal finden. Nun, interessant, dass du quasi auf das offene Ende vor dem Ende eingegangen bist. Ich hoffe trotzdem, dass auch dieses Ende die Möglichkeiten nicht allzu sehr einschränkt.
Hm, dass du ihren Abgang so sehr mit der Nacktheit in Verbindung bringst, finde ich ebenfalls interessant. Das war keine Absicht von mir, aber irgendwie passt es. Ich wollte die Geschichte schneller zu Ende bringen, und nun hat das rein zufällig die Konsequenz, dass sie ihn aus einer Art Verlegenheit verlässt.
Ich glaube aber auch, dass hiermit ein anderes Schweigen beginnt, denn irgendetwas will man ja vermissen können, in einer Welt, die darauf ausgelegt ist, dass man alles haben kann/könnte, aber vielmehr: sollte. Denn nein, man kann nicht alles haben, aber es wäre doch gut wenn man alles hätte, am besten auf einmal, so suggeriert einem die Welt. Und verkauft einem Lebkuchen im Sommer und sorgt dafür, dass man auch im Winter Eis kaufen kann.
Ich glaube, dass sie sich also in dieser Hinsicht ein Stück Natur zurückholt, indem sie sich sagt, dass es unmöglich ist, Winter und Sommer gleichzeitig zu haben. Aber du hast recht, es sind künstliche Jahreszeiten und da ich die ganze Zeit nur aus ihrer Perspektive geschrieben habe, weiß ich nicht, was er darüber denkt. Und zum Lieben und Hassen gehören zwei.
Vielleicht weiß er gar nichts von den Gedanken, die sie dabei hat und versteht sie ab diesem Moment gar nicht mehr. Ich hoffe es nicht, denn das wäre ja traurig, wenn er sie nur im Rahmen dieses Experiments lieben könnte. Aber ich glaube, dadurch, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hat, können ihre Ansichten nicht ganz grundverschieden sein. Hoffe ich.
Andererseits hat sie die Regeln geändert, ohne zu fragen (aber wie konnte sie auch?). Sie kann also nur hoffen, dass es wie beim Tanzen ist und sie so eingespielt sind, dass sie aufeinander reagieren können, ohne zu stolpern und ohne vorher darüber zu reden. Aber normalerweise führt beim Tanzen nur eine Person, und ob das in einer Beziehung auch auf Dauer so funktioniert, weiß ich nicht.
Ich halte Liebe für eine Entscheidung, die man trifft, ohne ihre Konsequenzen jemals ganz zu kennen und die man sich so einzurichten versucht, dass sie immer wie eine Heimat ist, in der man gerne bleibt und nicht wie ein Gefängnis, in das man sich selbst eingesperrt hat. Und vieles davon hat man selbst in der Hand.
Aber ob das wirklich die Antwort ist...? Eine Wohnung verlässt man ja hin und wieder und zu einem Gefängnis gehört ein Schlüssel. Und schon wird die Metapher mehrdeutig und brüchig.
Also vielleicht doch keine Worte über Liebe?
Aber dann bliebe wieder nur das Schweigen.
Lecker Senf für alle!
|
|
I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
(offline)
Dabei seit 06.2005
1618
Beiträge
|
Geschrieben am: 10.12.2010 um 23:39 Uhr
|
|
Schade, ich würde das gern noch weiter entdecken, diese Art der Analyse, aber die körperlichen Bedingungen lassen mir solch Sprache nicht mehr ganz zu.
Zwar bedeutet ein sich Anschweigen früher oder später immer ein tiefes Verstehen, aber hier, im Netz zu schweigen würde dieses Werk ganz einfach untergehen lassen.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
|
|
Caro_Lina - 29
Fortgeschrittener
(offline)
Dabei seit 03.2009
26
Beiträge
|
Geschrieben am: 31.12.2010 um 17:43 Uhr
|
|
Zitat von Rubin_: du hglaubst doch nicht ernsthaft dass ich dess ganze lese?!
das hab ich mir grad auch gedacht
♥
|
|
I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
(offline)
Dabei seit 06.2005
1618
Beiträge
|
Geschrieben am: 17.07.2012 um 11:37 Uhr
|
|
Jeder, der nicht fähig ist, dies zu lesen, ist auch nicht fähig zu leben. Sterbt, ihr allmächtigen Faulpelze, geht nieder zu euren niedrigen Bedürfnissen und kniet am besten vor ihnen, und bittet uns, das wir euch nicht die Hände abhacken, sodass ihr vielleicht irgendwann doch noch einmal schreiben dürftet. Wenn, dann aber bitte keine solch grausamen Worte.
Dies hier ist die bedeutendste Arbeit der unbekanntesten aber gleichzeitig grandiosesten Schriftstellerin der Neuzeit.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
|
|
Forum / Poesie und Lyrik
|