Zitat:
Rette sich, wer kann
von Lutz Gümbel
Die Zahl der Schweinegrippe-Infizierten steigt, deshalb sollen Millionen von
Menschen weltweit geimpft werden. Ist das sinnvoll oder nur ein großes Geschäft?
Wer sind die Drahtzieher der weltweiten Grippe-Panik?
Für Laura Förster war es ein Traumurlaub. Zum ersten Mal verreiste die 16-Jährige aus
Niedersachsen ohne ihre Eltern - eine Woche Mallorca, zusammen mit ihrer besten Freundin.
Wieder zu Hause, fühlt sie sich schlapp, hat Gliederschmerzen und leichtes Fieber. Der
Hausarzt macht einen Schnelltest auf Schweinegrippe. Ergebnis: negativ. Drei Tage später ist
sie wieder vollkommen gesund. Nun aber meldet sich das örtliche Gesundheitsamt und ordnet
an: Laura darf ihr Zimmer nicht verlassen. Ein weiterer, sehr viel genauerer PCR-Test, habe
ergeben: Schweinegrippe positiv. Laura ist genervt: "Ich fand das absurd, weil ich ja wieder
gesund war, und vom Gesundheitsamt kam dann die Anordnung zur Quarantäne."
Auch Lauras Mutter muss zu Hause bleiben. Als Lehrerin könnte sie ihre Schüler anstecken.
"Ich bin nicht krank geworden, mein Mann ist nicht krank geworden. Die Freundin, mit der sie
im Urlaub war und das Zimmer teilte, ist nicht krank geworden. Aus meiner Sicht ist das alles
Panikmache."
Panikmache oder echte Gefahr? Fangen wir bei null an. Im April 2009 gibt die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt: Zwei Kinder in Südkalifornien wurden mit einem
unbekannten Grippevirus infiziert! Der Erreger enthält neben menschlichem Virenmaterial
Gensequenzen, die auch im Grippevirus der Schweine vorkommen. Die Folgerungen der WHO:
Das neue Virus, genannt A/H1N1, könnte nicht nur vom Tier auf den Menschen überspringen,
es könnte auch zu einer Mischung aus Tier- und Humanvirus, einem echten Horrorvirus
mutieren. Es habe damit das Potenzial für eine Epidemie, vielleicht sogar für eine Pandemie
bisher ungeahnten Ausmaßes. In den Medien vergeht seither kein Tag ohne Warnung, es
könnten sich Hunderttausende infizieren und Tausende dem Virus erliegen. Die WHO drängt
auf schnelle Herstellung von Impfstoffen. Regierungen, auch die deutsche, schließen
Vorverträge mit Pharmafirmen für die Bereitstellung von Impfstoffen. Kritiker werfen der WHO
Unverhältnismäßigkeit und Panikmache vor.
Doch die Weltgesundheitsorganisation ist über jede Kritik erhaben, sie heizt die Panik weiter
an. Jetzt vergleichen Experten die neue Grippe sogar mit der Spanischen Grippe von 1918, der
40 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Die WHO erhöht ihre
Epidemiewarnungen erst auf Stufe vier, dann auf Stufe fünf, die letzte vor der Pandemie.
Schweinegrippeinfektionen zu diesem Zeitpunkt: 257 in elf Ländern.
Regierungen weltweit decken sich mit Grippemitteln ein, auch Bundesgesundheitsministerin
Ulla Schmidt kauft für 90 Millionen Euro Tamiflu (Hersteller Roche) und Relenza
(GlaxoSmithKline). Doch Virologen bezweifeln die Wirkung von Tamiflu, die Krankheit würde
allenfalls um einen Tag verkürzt. In den USA wurde die Verabreichung des Mittels wegen
Resistenzbildung eingestellt, in Japan müssen die Hersteller vor möglichen psychischen
Schäden warnen, nachdem sich jugendliche Tamiflu-Konsumenten umgebracht hatten. Für die
Gesundheitsbehörden spielt das keine Rolle.
Der Verlauf der Grippe ist und bleibt harmlos - selbst die WHO bestätigt dies –, eine leichte
Erkrankung der Atemwege mit Fieber und Husten, die Symptome sind milder als bei saisonaler
Grippe. Stefan Schmiedl, Arzt und Infektiologe am Uniklinikum Hamburg Eppendorf, bestätigt:
"Die sogenannte Schweinegrippe ist momentan nichts anderes als eine gutartige
Sommergrippe, wie wir sie auch sonst jedes Jahr kennen."
Dennoch schraubt die WHO am 11. Juni ihre Epidemiewarnung noch einmal höher, auf Stufe
sechs, die höchstmögliche Stufe. Jetzt gilt die "Schweinegrippe" als Pandemie, die erste seit
vierzig Jahren. Stufe sechs bedeutet: Massenimpfungen können angeordnet, nationale Gesetze
und individuelle Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Todesfälle durch die
Schweinegrippe weltweit zu diesem Zeitpunkt: circa 500. Tote durch "normale Grippe": jährlich
bis zu 500000. Schweinegrippetote in Deutschland: null.
In Deutschland beschließen die Gesundheitsminister von Bund und Ländern am 14. Juli die
Bestellung von 50 Millionen Dosen Impfstoff im Gegenwert von etwa 450 Millionen Euro. Diese
Menge - pro Person muss zweimal geimpft werden - reicht für 25 Millionen Menschen aus. Die
Aktienkurse von Impfstoffproduzenten wie Novartis, Baxter oder GlaxoSmithKline schießen in
die Höhe. Massenimpfungen an 25 Millionen Menschen halten Experten wie Wolfgang
Becker-Brüser, Herausgeber des arznei-telegramms, für "eine überflüssige
Geldverschwendung, weil die Virusgrippe bislang sehr milde verläuft und eine solche
Maßnahme sich medizinisch nicht rechtfertigt".
Die Bedenken der Kritiker richten sich vor allem gegen die neuen Impfstoffe, die jetzt von
Pharmafirmen in großer Eile entwickelt werden. Denn diese sind anders zusammengesetzt als
konventionelle Impfstoffe. Impfstoffe wirken vor allem durch Antigene, deren Produktion der
aufwendigste Vorgang bei der Herstellung eines neuen Impfstoffes ist. Deshalb mischen
Pharmahersteller dem neuen Impfstoff Wirkverstärker bei, was die Produktion eines
Impfstoffes insgesamt billiger und schneller macht und somit den Interessen der
Pharmaindustrie entgegenkommt. „Wirkverstärker verstärken aber nicht nur die erwünschten
Effekte, sondern auch die unerwünschten, von denen einige sehr unangenehm sein können“,
argumentiert Becker-Brüser. Die größte Gefahr bestünde darin, dass die Effekte der neuen
Hilfsstoffe nicht ausreichend erforscht sind: "Es gibt bislang lediglich einen Grippeimpfstoff, der
Wirkverstärker enthält, und dieser ist nur für Personen über 65 Jahre zugelassen; es gibt keine
Erfahrungen für junge Erwachsene, Kinder und erst recht nicht für Schwangere."
Ausgerechnet die WHO selbst gibt Kritikern wie Becker-Brüser recht. Auf ihrer offiziellen
Homepage gibt sie zu bedenken: "Bei der Entwicklung einiger Impfstoffe fanden auch neuere
Technologien Anwendung. Sie konnten in bestimmten Bevölkerungsgruppen noch nicht
ausreichend getestet werden. Nachdem diese Stoffe auf den Markt gebracht wurden, sollten
also Kontroll- und Prüfmechanismen eingeführt werden, die höchsten Ansprüchen genügen.“
Heißt: zuerst vermarkten, danach die Sicherheit testen. Der Pharmakologe Peter Schönhöfer
kommentiert das so: "Es wird ein Experiment an gesunden Menschen mit einem
möglicherweise schädlichen Stoff gemacht.“
Ein ähnliches "Experiment an Gesunden“ in den USA hatte fatale Folgen. Mitte der siebziger
Jahre war unter Soldaten des Fort Dix eine Grippe ausgebrochen, auch damals mit der
Bezeichnung "swinflu“. Deren Erreger war ebenfalls ungewöhnlich, dem Schweinegrippevirus
2009 allerdings nicht vergleichbar. Präsident Gerald Ford ordnete eine Massenimpfung an. Es
kam zu Hunderten Fällen von Guillain-Barré-Syndrom mit aufsteigender Lähmung. Dreißig bis
vierzig Menschen starben. Nach einer Welle von Schadensersatzprozessen mussten die
Pharmaunternehmen Schmerzensgelder in Millionenhöhe zahlen. In den USA produziert man
heute konventionelle Pandemieimpfstoffe ohne Wirkverstärker und testet sie ausführlich vor
der Verimpfung.
Auch die Vogelgrippe hätte Erkenntnisse liefern können: Im März 2005 meldet die WHO Fälle
von Vogelgrippe in Asien und konstatiert eine Gefahr der Übertragung auf den Menschen. Die
Tierkrankheit ist Experten zwar seit vielen Jahren bekannt, aber der Influenzadirektor der
WHO, der Deutsche Klaus Stöhr, warnt vor einer weltweiten Grippeepidemie: "Die Frage ist
nicht, ob sie kommt, sondern nur noch wann.“
Auch damals schließen Regierungen Verträge mit Pharmafirmen und kaufen für
Millionensummen Relenza und Tamiflu. Auch damals sprechen Kritiker vor Überreaktionen,
warnen wissenschaftliche Studien vor Nebenwirkungen und Resistenzbildungen der
Grippemittel. Doch die WHO verstärkt noch ihre Horrorprognosen. Impfdirektor Klaus Stöhr
spricht von sieben Millionen möglichen Toten. Mitte 2006 verschwindet die "Epidemie“ so
schnell, wie sie von der WHO in die Welt gesetzt wurde. Im November 2006 meldet die WHO:
Todesopfer weltweit: 152. Todesopfer Deutschland: null.
Die einzige Folge der ganzen Affäre: Klaus Stöhr, der Millionen von Toten prophezeit hatte,
wechselt 2007 - konsequenterweise – zu Novartis, dem weltweit drittgrößten Pharmahersteller.
Anders als heute rief die WHO 2006 keine Pandemie aus, die Voraussetzung für
Massenimpfungen. Der Epidemiologe Tom Jefferson hat dafür eine verblüffende Erklärung. Er
verweist auf eine frühere Pandemiedefinition der WHO, die noch bis Juni dieses Jahres im
Google-Cash zu finden war: "Die alte Definition war ein Virus, das sich schnell ausbreitet,
gegen das man keine Immunität besitzt und das eine sehr hohe Krankheits- und
Sterblichkeitsrate verursacht. Um den 10. Mai herum wurden die letzten beiden Punkte
entfernt und deshalb wird die Schweinegrippe als Pandemie kategorisiert.“ Mit der jetzt
geltenden Definition kann theoretisch jede saisonale Grippe zur Pandemie erklärt werden.
Was also treibt die Verantwortlichen der WHO an, immer neue, noch größere "Epidemien“ zu
generieren, milliardenteure Massenimpfungen zu empfehlen und nicht etwa einfache, schnell
umsetzbare und vor allem kostenlose Maßnahmen? "Hier herrscht ein Ungleichgewicht
zwischen deren Empfehlung von pharmazeutischen Gegenmaßnahmen und der
Vernachlässigung von hilfreichen, effektiven, billigen und recht harmlosen Gegenmaßnahmen
wie Händewaschen, die in der Tat Leben retten“, sagt Jefferson. Diese Unverhältnismäßigkeit
schlägt eindeutig zugunsten der Pharmaindustrie und zum Risiko, wenn nicht sogar zum
Schaden der Bevölkerung aus.
Die WHO gilt als eine neutrale, supranationale und vor allem unabhängige Organisation. Die
rund 200 Referenzinstitute, mit deren Hilfe sie das Krankheitsgeschehen in den 193
Mitgliedsländern kontrolliert, sind größtenteils staatliche Institutionen und gelten daher
ebenfalls als leidlich neutral. In Deutschland sind dies: das bundeseigene Robert-Koch-Institut
Berlin, das praktisch den gesamten Informationsfluss bei Infektionskrankheiten kontrolliert;
das Friedrich-Löffler-Institut für Tierseuchenforschung auf der Ostseeinsel Riems, das während
der „Vogelgrippe“ quasi monopolistisch die Virusanalyse und daraus resultierend die Fallzahlen
bestimmte, sowie das Paul-Ehrlich-Institut in Langen, ein bundeseigenes Institut, das für die
Zulassung und Chargenfreigabe von biomedizinischen Arzneimitteln zuständig ist und damit
enorme Macht über den Arzneimittelmarkt ausübt.
Taucht irgendwo eine meldepflichtige bekannte oder eine neue unbekannte Krankheit auf,
leiten die Referenzinstitute die Befunde an die WHO nach Genf. Wie die Fälle dort interpretiert
werden, liegt allein im Ermessen der Organisation. Doch wie die Statements der WHO
zustande kommen, ob Schwellen- und Entwicklungsländer, die Krankheitsfälle an die WHO
melden, überhaupt die Technik und das biomedizinische Know-how besitzen, um unbekannte
Erreger zu identifizieren, all das erfährt die Öffentlichkeit nie.
In ihren Anfängen mag die WHO einmal unabhängig gewesen sein, meinen Kritiker wie
Professor Schönhöfer: Doch heute "überwiegen die Industrieeinflüsse, teilweise auch in der
Personal-identität zwischen WHO und Industrie“. Der Fall von Klaus Stöhr dürfte dafür
beispielhaft sein. Seit seinem Wechsel von der WHO zum Pharmakonzern Novartis kommen
sein Wissen und seine Beziehungen einem ganzen Trust von Pharmafirmen zugute. Novartis
hat nicht nur Kooperationsverträge mit dem Tamiflu-Hersteller Roche, es hält auch knapp
33 Prozent an dem Schweizer Pharmariesen Roche selbst und rund 60 Prozent am
Tamifluproduzenten Chugai Pharmaceutical aus Japan, dem Land mit dem höchsten
Tamifluverbrauch. Bereits 2008, lange vor Ausbruch der Schweinegrippe, versprach Chugai
seinen Aktionären eine „531-Prozent-Gewinnsteigerung“ durch neue Grippemittel für das Jahr
2009. Roche hatte mit Tamiflu bis 2004 nur 30 Millionen Schweizer Franken Jahresumsatz
generiert. Im Vogelgrippejahr 2006 explodierte der Umsatz förmlich auf knapp eine Milliarde
Franken.
Die Lizenz zur Herstellung von Tamiflu hat Roche 1996 vom US-Biotechunternehmen Gilead
erworben. Vorstandsvorsitzender von Gilead war über lange Jahre Donald Rumsfeld, der
frühere Verteidigungsminister von George W. Bush, er hält noch immer ein Aktienpaket von 20
bis 25 Millionen US-Dollar an Gilead. An der Vogelgrippe von 2005/2006 hat Rumsfeld nach
Expertenschätzungen rund zehn Millionen Dollar verdient. In den USA wird Tamiflu deshalb
gern als "Rumiflu“ bespöttelt.
Eine ähnlich enge Verbindung zwischen Pharmaindustrie und UN-Gesundheitsbehörde besteht
nicht nur im Fall von Klaus Stöhr, sondern auch bei der derzeitigen Direktorin der
WHO-Impfstoffabteilung Initiative for Vaccine Research, Marie-Paule Kieny. Bevor sie 2001 zur
WHO wechselte, war Kieny als Forschungs- und Entwicklungsdirektorin beim französischen
Konzern Transgene S.A. beschäftigt, der zu 55 Prozent Mérieux Alliance gehört, einem der
großen Player im Pharmageschäft. Mérieux wie Transgene halten strategische Partnerschaften
zur Impfstoffherstellung mit Roche. Überdies pflegt Mérieux Forschungspartnerschaften mit
dem halbstaatlichen Institut Pasteur, das wiederum ein Referenzinstitut der WHO ist.
Angesichts so enger Freundschaften überrascht es nicht mehr, dass in der
WHO-Impfexpertengruppe SAGE (Strategic Advisory Group of Experts on Immunization), die
am 7. Juli 2009 die Pandemieempfehlung für die Schweinegrippe ausgearbeitet hatte,
Behörden- und Industrievertreter einträchtig an einem Tisch sitzen. Fast ein Drittel der
Teilnehmer sind Abgesandte von Pharmaunternehmen.
Falls es also in diesem Jahr nicht mehr klappen sollte mit der Schweinegrippe-Pandemie, mit
Millionen von Kranken und Hunderttausenden von Toten, darf man doch wenigstens sicher
sein, dass die Experten von WHO und Pharmakonzernen in schöner Einigkeit bereits die
nächste "Epidemie“ vorbereiten. Ob die dann eine Schweine-, eine Vogel- oder eine Eselsgrippe
sein wird, darauf darf man gespannt sein.
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe Oktober 2009
http://www.cicero.de/97.php?ress_id=1&item=4209