Kampfmops89 - 35
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Geschrieben am: 24.05.2006 um 16:15 Uhr
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Der folgende Text ist von mir selbst verfasst und ist ein teil einer geschichte, an der ich arbeite. Ich möchte euch bitten, mir ehrliche meinungen dazu zu schreiben!!!!
I.
Er war schlecht gelaunt und hungrig. Schon seit Tagen hat er nichts mehr zu essen bekom-men. Irgendwie sind die Menschen vorsichtiger geworden. Nachts ist keine gottverdammte Seele mehr auf der Straße. Außer die Penner und jene, die er liebevoll die „Gefallenen Engel“ nannte. Jene, die sich für etwas Geld für den nächsten Schuss an schmierige Typen mit billi-gen Modeschmuck und billigen Anzügen aus dem Versandkatalog verkauften.
Er selbst mochte die „Gefallenen Engel“. Sie hatten etwas, das ihn an zu Hause erinnerte. Zu Hause war dennoch weit weg. In einer Welt, in der er sich nichts von solch untergeordneten Kreaturen wie den Menschen etwas hätte sagen lassen müssen. In einer Welt, in der noch Recht des Stärkeren herrschte. Eine wunderbare Welt.
„Hallo Fremder“, ertönte eine rauchige Stimme hinter ihm. Er wandte sich um und schaute in ein engelsgleiches Gesicht. Ein Engel, mit viel zu viel Make-up und schmutzigen Klamotten. Er war erregt. Doch nicht sexuell.
Er war hungrig – sehr hungrig. Die letzten Tage waren eine Qual für ihn. Nur nachts waren seine Schmerzen nur zu ertragen. Nichts außer einer Ratte. Eine kleine, von Krankheiten durchzogene Ratte. Durch das weiße Shirt konnte er einen Brustring erkennen. Seine Mutter hatte ihn immer vor dem zu großen Hunger gewarnt. Wenn der Hunger, die Sinne benebelte und den Verstand einsperrte. Gott, wie er es hasste, im 21. Jahrhundert zu leben.
„Wie wär’s mit uns zwei?“, fragte der Engel und lächelte schief. Ihre Zähne waren schmutzig und gelb vom Nikotin. Er lächelte und stürzte auf sie zu – heute Nacht musste er nicht hung-rig ins Bett gehen.
Schweißgebadet fuhr Melanie aus dem Schlaf. Sie atmete flach und hastig. Wieder einer die-ser verdammten Albträume, dachte sie und war wütend. Wütend auf die, die ihr das antaten und auf sich selbst, weil sie es jedes Mal zuließ. Obwohl sie ganz genau wusste, dass das mehr als nur gefährlich für sie war.
Langsam und mit zittrigen Beinen stieg sie aus dem Bett und ging hinüber zum Fenster. Der Vollmond schien hell und erleuchtete das ganze Zimmer. Melanie öffnete das Fenster einen Spalt und sog die kalte Nachtluft gierig ein. Nur sehr schwerfällig kam ihr Verstand wieder in Gang und konnte sich and den vergangenen Traum erinnern. Eine dunkle Gasse, ein paar Ob-dachlose und sehr viele Straßenprostituierte. Sie fröstelte und versuchte die Gänsehaut, die sich über ihre Unterarme zog, zu verscheuchen. Was sie da gesehen hatte, war durch und durch grausam. Noch nie, weder in ihren Träumen oder Visionen wie in ihrem realen Leben, hatte sie je so etwas gesehen.
„Melanie?“, fragte jemand hinter ihr und Melanie fuhr erschrocken herum. Ihr Herz zersprang förmlich und sämtliche Muskeln in ihrem Körper bebten vor Adrenalin. Doch in der Tür stand ihre Tante und Pflegemutter Kathy und schaute sie wartend an. Doch Melanies Blick sagte mehr wie tausend Worte. Kathy ging zu ihr rüber und drückte sie sanft an sich. Ihr tat es jedes Mal sehr weh, ihre geliebte Nichte so zu sehen. Niemand hatte es verdient, so etwas durch machen zu müssen. „Ist es wieder besser?“, fragte Kathy nach einer Weile leise. Doch Mela-nie nickte nur leicht. Kathy stand auf und verließ wieder das Zimmer. Sie wusste ganz genau, dass sie ihrer Nichte in diesem Moment nicht helfen konnte.
Melanie blieb in der Dunkelheit zurück und weinte. Nicht wegen dem Traum – davon hatte sie einfach schon zu viele erlebt und gesehen. Nein, sie musste an ihre Mutter denken.
Samira war ihr Name und in ihr verschmolz die Schönheit beider Welten: die der Tagwelt und die der Nachtwelt. Samira war groß, schlank und katzenähnlich. Ihr pechschwarzes Haar reichte ihr stets zur Hüfte – nie hatte sie es sich kürzer schneiden lassen. Melanie war das per-fekte Ebenbild von ihrer Mutter. Bis auf die Augen:
Melanie’s Augen waren groß und rund wie zwei lupenreine Glaskugeln, die auf dem Regal über dem Kamin lagen. Samira’s Augen waren das direkte Gegenteil. Nur an ihren silbergrau-en Augen konnte man ihr wahres Wesen erkennen: Wild, unberechenbar, frei. Sie selber hatte sie immer mit dem „Vollmond am sternenlosen Himmel“ verglichen. Frei von Sorgen und Verantwortung. Kathy pflegte immer zu sagen, dass dies Samira’s Untergang letztlich gewe-sen wäre. Aber Melanie sah es nicht anders. Nur zu gut konnte sie sich an die Umstände Sa-mira’s Tod erinnern…
Es war Halloween.
Der einzige Tag im Jahr, indem beide Welten zu einer wurden. Dies war für Samira ein be-sonderer Anlass, ein berauschendes Fest zu geben. Aber wohin mit ihrer kleinen Tochter? Eine Party voll mit zwielichtigen Gestalten war wirklich kein Platz für eine Fünf-Jährige. Ihre Schwester Kathlyn! Samira lachte und lief schnell in Melanie’s Zimmer. Dort spielte die Kleine mit ihren Puppen und war im Moment wahrscheinlich das zufriedenste Mädchen der großen weiten Welt. „Melanie-Maus. Kannst du dich noch an Tante Kathy erinnern? Die mit den lustigen Augen?“, fragte Samira ihren ‚kleinen Sonnenschein’ und kniete sich neben Me-lanie auf den Boden. Melanie grinste und nickte eifrig. Samira stand auf, packte für ihre Tochter eine kleine Tasche und nahm Melanie an der Hand. „Was hältst du davon, heute mal bei ihr zu schlafen?“
„Bitte Kathlyn. Nur diese eine Nacht“, bettelte Samira und nahm die Hand ihrer älteren Schwester. „Nur dieses eine Mal. Bitte! Ich bin 364 Tage im Jahr Mutter und Schützerin! Da hab ich mir auch mal eine Pause verdient. Komm schon Kathy! Es ist doch nicht jeden Tag Halloween.“ Kathlyn, die drei Jahre ältere und ernstere von den beiden, runzelte die Stirn. „Du weißt was ich von diesem Brauch halte?“, fragte sie Samira, erwartete dennoch keine Antwort. Melanie saß im Wohnzimmer und sah sich eine Zeichentrickserie an. Samira nahm einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und schaute zum Fenster raus. Nur zu gerne wäre sie einfach gegangen. Wie sie diese ewigen Diskussionen mit ihrer Schwester anödeten.
Mensch, man lebt doch nur einmal! Eine Zeit lang herrschte völlige Stille in der kleinen, ge-mütlichen Küche. Jeder war in seine eigenen Gedanken gesunken. Dann brach Kathlyn das Schweigen: „Na gut. Ich nehme Melanie.“ Als sie Samira’s erleichtertes Gesicht sah, fügte sie noch schnell hinzu: „Aber nur für diese eine Nacht.“ Samira sprang auf, tänzelte um den Tisch herum und umarmte ihre Schwester. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin!“, zwitscherte sie und ging schnell ins Wohnzimmer, um sich von ihrer Tochter zu verab-schieden.
Dann war sie auch schon zur Tür hinaus. Kathlyn konnte das wilde Quietschen der Autoreifen hören. Sie schüttelte den Kopf – mehr über sich selbst als über ihre verantwortungslose Schwester. In ihr machte sich ein ungutes Gefühl breit. Warum wurde sie einfach das Gefühl nicht los, dass sie ihre Schwester nie wieder sehen werde...?
Gegen fünf Uhr morgens wurde Kathlyn geweckt. Jemand klingelte Sturm an ihrer Tür. Schnell schlüpfte sie aus dem Bett und hoffte, dass der doch recht frühe Gast nicht Melanie aufgeweckt hatte. Im Eingangsbereich schaltete sie das Licht ein und erkannte durch die Glas-tür zwei uniformierte Polizeibeamte. Panik machte sich in ihr breit. Hatte sie sich etwa doch nicht getäuscht? So gut wie möglich versuchte sie, ihre wahren Gefühle zu verstecken. Sie öffnete die Tür und die Polizisten traten ein. „Sie wünschen?“, erkundigte sich Kathlyn und wickelte den Morgenmantel fester um ihren bebenden Körper. Warum zitterte sie denn so plötzlich? Es war doch nichts. Sie waren bestimmt nur gekommen, um ihre sturzbesoffene Schwester zur Ausnüchterung in gute Hände zu geben.
„Sind Sie Kathlyn Bray?“, fragte einer der Polizisten und nahm die Mütze vom Kopf. Der Zweite tat es ihm nach. „Ja“, antwortete Kathlyn und fragte: „Was gibt es denn, Officer?“ „Wir sind wegen ihrer Schwester, Samira Bray, hier“, antwortete der erste Officer. „Sie müs-sen Verständnis für sie haben“, lächelte Kathlyn, „Sie ist noch sehr jung und allein erziehend. Ihre Tochter schlief heute bei mir. Da ist es doch selbstverständlich, dass sie was getrunken hat. Ist sie denn stark betrunken?“ „Sie ist tot.“
Die nächsten Monate waren das reinste Chaos. Kathlyn musste alles allein organisieren: die Beerdigung, die Haushaltsauflösung, die Vormundschaft für Melanie, der Umzug in eine grö-ßere Wohnung… Und dazu kamen noch ihre Pflichten außerhalb jeder Norm. Sie wöchentli-chen Treffen des Zirkels in ihrer Wohnung mussten abgesagt werden. Sie konnte nachts nicht mehr an wichtigen Sitzungen und Treffen teilnehmen und ihre Ehe zu Herold zerbrach nun völlig. Herold zog sich in die Nachtwelt zurück und sie blieb allein im anderen Teil zurück. Allein, in Trauer um ihre tote Schwester und mit einem kleinen Kind. Sie redete sich immer wieder ein, das alles nicht zu schaffen, bis zu einer sehr besonderen Nacht:
Samira’s Tod lag nun schon mehr als zwei Jahre zurück, aber von Routine war im Hause Bray noch lange nicht zu sprechen.
Kathlyn hatte noch immer mit den strengen Regeln und Verboten der beiden Welten zu kämp-fen und dazu kamen noch Sorgen um Melanie. Melanie’s Kräfte drangen immer mehr an die Oberfläche und beängstigten Kathlyn. Wie sollte sie damit umgehen? Ihre eigene Mutter hatte auf das ‚Learning by doing’-Prinzip gesetzt und sich nicht im Geringsten um ihre Töchter gekümmert. Sollte Kathlyn es etwa ihr nachtun? Was würde Samira davon denken? Das Geld für die sehr kostspieligen Unterrichtsstunden bei älteren Weltlern brauchte sie, um Melanie eine gute Schulausbildung zu bieten. Auch sonst war finanziell so ziemlich wie alles im Kel-ler. Beim Umzug in die neue Wohnung hatte sich Kathlyn maßlos überschätzt, zu hoch den Rücklass ihrer Schwester gerechnet. Von dem 20.000 Dollar Erbe, welches beide Schwestern von ihrem früh verstorbenen Vater bekommen hatten, war nichts übrig geblieben. Samira hat-te es tatsächlich hinbekommen, in drei Jahren knapp 17.000 Dollar für Klamotten und Schmuck auszugeben. So musste Kathlyn sehen, wo sie das Geld auftrieb.
Eines Abends, es war schon weit im November, klingelte es. Kathlyn, die gerade erst die nun acht-jährige Melanie zu Bett gebracht hatte, wollte es sich eigentlich gerade auf dem Sofa gemütlich machen.
Sie seufzte schwer und ging zur Tür. Als sie die Tür öffnete, überlegte sie sich schon, wie sei den späten Gast am Besten abwimmeln konnte. Dann prallte sie zurück. „Mutter“, stöhnte Kathlyn atemlos. In der Tür stand eine ältere Dame mit schneeweißen Haaren und silbergrau-en, katzenförmigen Augen. Ihre Erscheinung war schmal und zierlich, doch ihr Gesichtsaus-druck zeigte pure Entschlossenheit. Mit rauer Stimme, ein Zeichen jahrelangen Kettenrau-chens, fragte sie: „Ganz recht. Hättest du vielleicht den Anstand und lässt eine alte Frau in dein Heim treten?“ Sprachlos und über den spöttischen Unterton verletzt, trat Kathlyn beiseite und ließ ihre Mutter herein. Ihre Mutter, in den eigenen Kreisen auch ‚Seherin’ genannt, ließ sich schwer in einen alten Ohrensessel fallen und machte Anstalten, sich eine Zigarette anzu-stecken. Kathlyn räusperte sich und setzte sich auf das Sofa. „Was verschafft mir die Ehre?“, fragte sie und versuchte, nicht allzu genervt zu klingen. „Hättest du damals deine Kräfte nicht weggesperrt wie ein ungeliebtes Kind, wüsstest du das schon seit Tagen“, antwortete ihre Mutter barsch, fügte aber hinzu: „Ich will mal nicht so sein und sage es dir: Es ist Melanie, die dem Zirkelsrat Kopfschmerzen verursacht. Ihre Kräfte wachsen einfach zu schnell, um einen geeigneten Geleit zu finden. Also wurde ich aus meinen wohlverdienten Ruhestand zu-rückgeholt, um auf meine Enkelin aufzupassen.“ „Dann kannst du dir Mühe sparen. Ich bin Melanie’s Vormund und ich entscheide, wann sie in die zweite Welt eingeführt wird“, erwi-derte Kathlyn pampig und fühlte sich in ihre eigene Kindheit zurück versetzt.
Damals entschied ihre Mutter oft genug über Kathlyn’s eigenen Kopf hinweg.
Das wollte sie auf keinen Fall Melanie antun. „Falsch, meine liebe Frau Tochter. Der Zirkel entscheidet. Und dessen Entscheidung ist drauf gefallen, dass ich zu Melanie’s magischem Geleit werde. Meinst du etwa, mir gefällt es, mein Haus auf Maui aufzugeben und hier im Kalten Norden mir sämtliche Zipfel abzufrieren?“ „Dich hat keiner dazu gezwungen!“, schrie Kathlyn nun fast.
Ihr Herz zersprang förmlich, weil der ganze alte Kummer heraus zu brechen drohte. Die Nie-derlagen im Kampf um Anerkennung. Die Einsamkeit nach Vater’s Tod. Die ewigen Kämpfe um Nichtigkeiten mit ihrer Schwester. Die Kälte, die in ihrer ersten Wohnung herrschte, weil sie die Miete nicht zahlen konnte. Die harten Jahre des Studiums. Und das alles konnte sie meistern, ohne auch nur einmal bei ihrer Mutter um Rat zu fragen. Denn diese lebte nur für ihre Arbeit im Zirkel. Umso älter ihre zwei Töchter wurden, umso weniger Verantwortung übernahm sie. Samira möchte ihr vielleicht verzeiht haben – doch in Kathlyn herrschte immer noch tiefster Hass und eisigste Kälte. Niemand, nicht einmal der mächtige Zirkel, konnte be-wegen, dass sie diese Frau in ihrem Heim aufnehme.
Ihre Mutter verstummte und sank in sich zurück. „Du hast mir immer noch nicht verziehen?“, fragte sie, ohne auch nur den Blick zu heben. „Ich nicht. Und Samira sicher auch nicht. Nur wegen deinen ach so liberalen Erziehungsmethoden wurde sie so“, antwortete Kathlyn und atmete schwer. Wie lang sollte das nur so weiter gehen. „Dann werde ich jetzt besser gehen und dem Zirkel deine Entscheidung mitteilen“, wisperte die Mutter und stand auf. Wortlos ging sie zur Tür und verschwand. Kathlyn blieb allein zurück und starrte dumpf vor sich hin. Langsam kamen ihr die Tränen. Wie sollte sie das alles nur schaffen? Ohne Geld und ohne Unterstützung?
Dann stand auch sie auf und ging zu Bett.
„Melanie?“ Kathlyn war zurückgekommen und legte sanft einen Arm um Melanie. Melanie zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus. Sie war zu tief in ihren Gedanken gewe-sen, um mitzubekommen, dass der Morgen bereits graute. „Melanie, Schatz. Willst du dich nicht lieber noch mal etwas hinlegen? Ich kann in der Schule anrufen und dich entschuldi-gen“, schlug Kathy ihr vor, doch Melanie winkte ab. „Wenn ich nichts tue, kommen nur alle schlimmen Gedanken wieder hoch. Außerdem schreibe ich nächste Woche eine Lateinarbeit“, erklärte Melanie und erhob sich von der Fensterbank. Ihr war kalt, deshalb entschloss sie sich, erstmal kräftig zu duschen. „Okay, geh duschen“, meinte Kathy, „Ich mach in der Zwischen-zeit Frühstück.“
Melanie stellte sich unter den Duschkopf und drehte das Wasser auf. Sie ließ sich von dem warmen Wasser berieseln und seifte sich danach gründlich ein. Im Zimmer zurück schlüpfte sie in Jeans und in ein Sweatshirt. Die noch feuchten Haare band sie locker zu einem Zopf zusammen. Noch schnell in die Turnschuhe und die Schultasche um die Schulter geschwun-gen, dann war sie fertig und sah auch noch recht erfrischt aus. Aus der Küche lockte der ver-führerische Duft von frischen Pancakes und Kaffee. Ihre Passion für Kaffee musste sie wohl von ihrer Mutter geerbt haben.
„Geht’s dir wieder besser?", fragte Kathy, als sich Melanie zu ihr an den Esstisch setzte. „Es geht“, antwortete Melanie und begann zu essen. Kathy zögerte noch einen Augenblick, tat es ihr dann aber nach.
In der Schule war Melanie nur sehr unkonzentriert bei der Sache, konnte den weiten Aus-schweifungen ihrer Lehrer nur zum Teil oder gar nicht folgen. Immer noch beschäftigte sie der Traum der letzten Nacht und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Auch als sich Melanie in einer Pause in ein stilles Eckchen verzog, wurde es nicht besser. Sie hatte nicht viele Freunde – ihre Art passte den meisten von ihnen nicht. Melanie wollte kein Sportfreak, keine Intelli-genzbestie oder gar ein Cheerleader sein. Sie wollte nichts mit den verkifften Skatern oder den extremen Goths zu tun haben. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Und wie sollte sie sich mit jemand anfreunden können, wenn sie niemanden von ihren Träumen und Visionen erzählen konnte?
Sein Kopf tat weh.
Schade, dass seine Rasse gegen Schmerzmittel komplett immun ist – ein Aspirin konnte er im Moment wirklich vertragen. Seit seiner letzten Hungerattacke sind nun knapp zwei Wochen vergangen. Aufmerksam hatte er die Medien verfolgt, doch nur einen winzigen Artikel mit fünf Zeilen über den Fall entdeckt. Junge Prostituierte tot in Seitengasse lautete die Über-schrift. Lächelnd, ja fast schon grinsend hatte er die kurzen Zeilen gelesen, ausgeschnitten und in eine kleine Schatulle gelegt, wo auch die anderen Artikel lagen. Immer wieder die gleiche Überschrift: Namenlose Prostituierte tot aufgefunden, Keine neuen Erkenntnisse über Mordserie im Rotlichtviertel, Weitere Tote in Seitenstraßen und Gassen entdeckt, Todesursa-che unbekannt. Er war vorsichtig, suchte seine Opfer ganz sorgfältig heraus. Nie an Orten, die er jemals ein zweites Mal aufsuchen würde.
Doch in seiner jetzigen Situation tat ihm das Denken weh. Er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder dachte er nur an sie. Sie war seine Offenbarung und sein Untergang in einem. Wenn er sie nicht bald zu fassen bekäme, würde die Lage eskalieren. Der Rat würde sie zu sich holen und ihr Urteil fällen. Er wäre auch ein Teil des Urteils. Ihm würde im Falle des Versagens der Tod drohen. Da kannte seine Welt kein Pardon.
Er erhob sich langsam von seinem Bett und ging hinüber zum großen Fenster auf der Sonnen-seite seines Apartments und riss die schweren, schwarzen Vorhänge aus Samt beiseite. Unter ihm lagen die hell erleuchteten Straßen der Stadt da und funkelten ihm verführerisch entge-gen. Wie viele Frauen heute Nacht wohl unterwegs sind? Schnell verbannte er den Gedanken aus seinem Kopf und verzog das markante Gesicht zu einer Fratze. Sein eigenes Spiegelbild starrte ihm entgegen: Die silbergrauen Augen, die gerade Nase mit dem breiten Rücken (et-was krumm dank einer wilden Schlägerei), die markanten Wangenknochen und der schmale Mund mit den dünnen Lippen. Manchmal schien es, als ob er ständig schlecht gelaunt sei. Das volle Haar stand ihm immer wild vom Kopf ab, wie als wäre er gerade erst aufgestanden. Der Körperbau erinnerte eher an einen Panther als an einen Bären, wie es eigentlich bei sämtli-chen Männern in seiner Familie eher üblich wäre.
Langsam ging er durch das von einer Kerze nur spärlich beleuchtete Zimmer und in die Kü-che. Dort blitzte alles nur so von Sauberkeit. Seine Haushälterin Maria hatte volle Arbeit ge-leistet. Und ihm sogar noch ein paar Sandwiches in den Kühlschrank gelegt. Im Gedanken küsste er die beleibte Mexikanerin, die ihm immer wieder zu mehr Leben aufforderte. Immer-hin lebe er ja nur einmal. Und wenn man in so einer Stadt lebe, kann man doch nicht den gan-zen Tag nur im Bett liegen. Mit einem Sandwich und einem Bier bewaffnet setzt er sich vor den Computer und checkte seine E-Mails.
Sein Leben ödete ihn an. Er verfluchte es, eingesperrt zu sein. Er hasste es, kein Mädchen neben sich zu haben, das ihn verstand. Ein Mädchen, jenes die gleichen Probleme und Sorgen hatte.
Ein Mädchen wie Janet.
Janet, seine erste große Liebe. Wie lange war sie schon nun tot? Drei-, vierhundert Jahre. Vielleicht waren es auch erst drei oder vier Jahre. Eigentlich war es ihm auch egal. Sie fehlte ihm, dass war klar.
Das Telefon klingelte und riss ihn aus den Gedanken. Wirsch meldete er sich:
„Ja?“
„James! Baby! Schatz!“, ertönte eine nervtötende quietschende Stimme. Er verdrehte die Au-gen: Seine Cousine Carmen.
„Was gibt’s?“, fragte er betont gelangweilt und nahm einen großen Schluck aus der Dose.
„Kann ich nicht mal meinen Lieblings Vetter anrufen, ohne Hintergedanken?“, fragte Carmen und fügte hinzu: „Man will ja nicht so sein. Dein Vater hat mich zu eurem Halloween-Ball eingeladen und da fragte ich mich, mit wem ich da wohl hingehen könnte. Und da bist du mir eingefallen.“ „Halloween ist erst in zehn Tagen“, erinnerte James sie. Carmen stöhnte theatra-lisch und erwidert: „Das weiß ich, aber ich dachte, wenn ich dann schon einmal in deiner Stadt bin, können wir vielleicht … ein bisschen Zeit miteinander verbringen.“ James verzog angeekelt das Gesicht und meinte: „Du bist widerwärtig.“
„Unsere ganze Rasse ist widerwärtig, James-Schätzchen“, zischte Carmen bösartig und legte auf.
James atmete flach.
Da war sie wieder: diese Aggression, die ihn unüberlegte Dinge machen lässt. Sollte er auf seinen Vater hören und zu Hause bleiben? James verbannte schnell alle Gedanken an seine Familie und ging zum Schrank, um sich anzukleiden. Heute Nacht wird er jagen…"
Das Leben kann sehr wohl ein Ponyhof sein...
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