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Forum / Poesie und Lyrik

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I3I_4CKNINJ4 - 34
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 11.01.2015 um 20:07 Uhr
Zuletzt editiert am: 18.01.2015 um 21:58 Uhr

[..."Es zerbrach. Nicht unbedingt mein Herz, das lag schon aus früheren Zeiten in dieser Geschichte begraben, aber irgendetwas in dieser Richtung. Ich blickte von ihr und dem Zug in dem sie saß weg, versuchte mich zu beherrschen, gab dann aber auf und schrie Gerold an: "Nimm' meine Hand! Kerl schau' her und halte meine Hand fest! Sorge dafür, dass ich nicht alles in diesem Leben aufgebe und in diesen Zug steige. Denn das ist das einzige, was ich gerade will."
Meine Füße scharrten auf dem Boden. Gerold reagierte, nahm meine Hand in dem Moment als ich losrennen wollte und die Türen am Schließen und damit den Zug am Losfahren hindern wollte. Ich zog und riss an seinem Arm und da war es: die Bestie wollte erwachen, eine Entscheidung tätigen, fällen, köpfen, jetzt!
"Wenn du in diesen Zug steigst, dann werde ich Ziehvater von Mono sein. Und ich werde ihn dazu erziehen, stark zu werden, um dich irgendwann zu suchen. Du, der du deine eigene Frau samt ungeborenen Sohn verlassen wolltest. Und ich werde dafür sorgen, dass er dir persönlich den Kopf abreißt." " Ende und Out. M.D.R - 21. September 2015]

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Mono saß auf der Gumpenkarspitze, ein steinerner Haufen mit Grasbewuchs. Er blickte auf seine abgelatschten Suleymon Mega-Trailrunner und ließ seinen Puls wieder in Richtung gesunde Zonen wandern.
Nur etwa zweihundert Meter südlich stachen die kalküberzogenen Wände des schlanken Galbeschrofens empor. Zwischen Mono und diesem Gipfel lag eine kleine Scharte, deren Überschreitung etwas mehr als nur Hände und Füße erfordert hatte. Und nur ein paar Meter vor ihm lag ein feiner Hauch Luft, der über hundertfünfzig Meter in den Abrung fiel. Im Norden hingegen, direkt hinter dem gleichnamigen Sattel, lagen die hellgrau bestrahlten Südwände des Geiselsteins.
Obwohl seine Mutter ihm, seit Vater nicht mehr da war, davon abgeraten hatte, war er ungesichert über die Südwand auf den Gipfel mehr gekrochen als geklettert. Die Wand an sich sollte im abgeschwächten fünften Grad liegen. Der ganze Übergang vom Gabelschrofensattel bis zum Geiselstein war deutlich schwerer bewertet. Aber auf dem Gabelschrofen hatte er einen Gipfelbucheintrag gefunden, der ihn zwang den direkten Weg zur Gumpenkarspitze zu nehmen.
Im Buch auf dem schroffen, brüchigen, ersten Gipfel stand:

"Hallo Mono!
Geh geschwind über den Grat zum Gipfel mit gleichem Anfangsbuchstaben. Dort liegen die nächsten Geschichten. Dort offenbart sich ein kleines bisschen mehr Vergangenheit deines Vaters! M.D.R 21. September 2021"

Das Gipfelbuch war voll. Bis zur letzten Seite. Und heute war der siebzehnte Mai 2030. Mono würde dieses Jahr fünfzehn werden. Und der Eintrag von seinem Vater stand auf der dritten Seite. Im Sommer kamen etwa drei Einträge pro Woche hinzu. Wenn er auch nur einen Monat gewartet hätte, dann wäre das Buch durch ein Neues ersetzt worden.
Die Gifeplhöhe war mit tausendneunhundertachtzehn Meter betitelt. Der erste Eintrag war vom Jahr 2010! Ein Gipfelbuch, das über zwanzig Jahre alt war!
Sein Vater hatte in akribisch kleinen Lettern geschrieben:


"Hallo Mono,
Heute und in diesem Bericht soll es um Entscheidungen gehen. Dazu werde ich dir von einer Frau erzählen, deren Bild und Erinnerung mich einen großen Teil meines Lebens begleitet hat. Heute bin ich froh, dass ich damals so gehandelt habe.
Diese Frau nennt sich Frieda. Sie ist in der Schweiz nahe der Stadt Basel geboren. Leider spielte das Schicksal ihr schon früh einen bösen Streich; ihr Vater starb, als sie sechs Jahre alt war. Das trübte aber nicht ihr Gemüt und sie schaffte es bis ins Erwachsenenalter ein notorisches Grinsen aufzulegen, ein wunderschönes Lächeln, an das ich mich auch später noch erinnerte.
Ich lernte Frieda nicht im echten Leben kennen.
Es ist aber trotzdem wichtig, in welcher Situation ich mich befand, um zu verstehen, warum ich es dennoch befürworte, dass ich sie "so" kennen lernte.
Nach meinem Abitur wollte ich nach Brasilien. In meiner jugendlichen Naivität war ich davon überzeugt, dass ich als gebildeter weißer Mann den Menschen im Regenwald helfen konnte. Ich hatte kein Geld, konnte die Sprache nicht sprechen und war außer einer Radtour, die zwei Monate durch Schweden ging, noch vollkommen unerfahren im Umgang mit fremden Kulturen.
Trotzdem befanden sich auf meinem Konto über tausend Euro. Die hatten meine Eltern seit meiner Geburt angespart und es war gedacht, dass ich damit meinen Führerschein machen konnte.
In Brasilien konnte ich gar nichts. Ich starrte auf meine Hände, schob sie unter die Füße und versuchte damit zu kommunizieren.
Ein Bus der Marke "Uralt ohne Stoßdämpfer" hatte mich mitten im Regenwald in dem Bretterhaufen Anapu ausgespuckt.
Dort saß ich fast zwei Monate, gefiel mir selbst in meiner Rolle als "Hahn im Korb" und lernte ganz langsam das brasilianische Portugiesisch.
Gegen Ende dieses "Urlaubs" suchte meine deutsch-geprägte, mir innewohnende Poesie nach einer zumindest ansatzweise eloquenten Kommunikation. Meine Mutter erzählte mir von einem gewissen Mike Horn, ein Extremabenteurer, der in seiner Rente nun Expeditionen für Jugendliche anbietet. Für diese Gruppe an Menschen gab es ein Forum im Internet.
Dort fing ich an mit ihr zu schreiben und malte mir anhand von ihren Worten aus, wie es sich anfühlen würde, ihre Hände zu berühren.
Anfang 2010 stand ein Treffen von ein paar Jugendlichen dieses Forums an. Ich wohnte damals an der Donau nahe Ulm, das Treffen war aber mitten in der Schweiz.
Da ich an die warmen Temperaturen am Äquator gewöhnt war, meinte ich zu Frieda, dass ich zu dem Treffen mit dem Fahrrad fahren könne und dann - da die Strecke etwas weit für einen Morgen ist - am Abend vorher bei ihr übernachten könne.
Sogar ihre Mutter war einverstanden - ich fuhr aber mit dem Zug hin.
Viele Dinge, die wir uns vorher erdacht und erhofft hatten, entsprachen der Wirklichkeit, also gaben wir uns in der Nacht der Anziehung hin.
Über ein halbes Jahr waren wir ein Paar.
Ich pendelte oft fast kostenlos mit dem Zug von Ulm nach Rheinfelden, indem ich einfach in den Zug einstieg und nach Plätzen in einem Baden-Württemberg-Ticket fragte.
Ich überzeugte Frieda auch davon, dass eine Fortbewegung nahezu ohne Auto die schönere sei.
Wir kosteten unsere Jugend an der frischen Luft, fuhren mit dem Fahrrad zu ihrem Opa am Vierwaldstättersee und stärkten unser Vertrauen zueinander, indem wir an den Felsen dieser Welt kletterten.
Damals wusste ich noch nicht, dass Karrieraufstieg und die damit verbundene finanzielle Sicherheit ein Grundprinzip in der weiblichen Denkstruktur ist und es gar nicht möglich ist, dem irgendwie durch kreative Ansätze beizukommen. Wahrscheinlich gefiel es ihr nicht ganz, dass ich "nur" in einer Zimmerei arbeitete, während sie sich auf das "große" Leben in der Matura vorbereitete.
Irgendwann kam also der Tag, an dem sie mich verließ. Warum das geschah habe ich bis heute nicht verstanden. Wie schon Cat Stevens sagte, "ist der erste Schnitte der tiefste". Diese für mich erwählte Welt brach entzwei.
Im Sommer, kurz vor ihrem Geburtstag fuhr ich mit dem Zug nach Tuttlingen und von dort aus mit dem Rennrad durch den Schwarzwald, übernachtete in der Nähe eines Dorfes am Rhein auf einem Feld, mit nur einem dünnen Schlafsack im Gepäck.
Am nächsten Tag stand ich, verschwitzt und erschöpft vor ihrer Tür, klingelte, mit schon wehendem Herzen.
Als sie öffnete, übergab ich ihr eine Maxi-CD mit dem Lied "Du kannst in die Sterne fliegen, auch in die Mongolei" - sehr passend, da sie damals, genau an diesem Tag wirklich in die Mongolei flog.
Sie bat mich zu einem Tee hinein, blieb ganz formell und nur eine diskrete Umarmung zum Abschied.
Meine ganze Energie ging verloren, ich schleppte mich irgendwie auf mein Rennrad und schrie, schrie, um dem Schmerz irgendwie zu entkommen.
Dann war es vorbei. Ich brach meine Ausbildung ab, begann ein neues Leben in Wien - wie mir jetzt auffällt, ist das die am weitesten von Basel entfernte deutschsprachige Stadt - und fing an etwas Belangloses zu studieren.
Dort war ich auch Fahrradkurier. Ich heizte, raste, pedalierte durch die Stadt und ließ dadurch mein Herz regenerieren.
Und, durch einen Zufall traf ich deine Mutter wieder. Wir lernten uns neu kennen, ich zog schnell zu ihr nach München. Und diese Frau verstand wirklich, was es hieß, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Wir standen zusammen auf dem Gipfel des Teide, umrundeten die gesamte iberische Halbinsel sowie alle Fjorde im südlichen Norwegen mit dem Fahrrad und starteten zusammen bei einem Ironman, den nur sie finishte.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Drei Jahre später, am 21. September und damit am Geburtstag deiner Mutter, traf ich Frieda wieder. Wir wollten uns aussprechen und die Unfähigkeit der damaligen Jugend, nämlich eine zu Ende gegangene Beziehung auch richtig zu beenden, aus der Erinnerung streichen.
Das klappte aber nicht. Denn vor allem bei ihr, die mich damals verließ, war noch zu viel Herz, zu viel Mögen dabei.
Trotzdem war es aus. Trotzdem blieb ich bei deiner Mutter. Ich weiß nicht, ob es die Angst davor, einen Trennungsschmerz erneut zu erleben, war.
Jedenfalls brachen wir den Kontakt ab. Ich blieb in München und ich heiratete die viel größere blonde Frau im folgenden Sommer.
In diesem Jahr gewannen die Berge für mich sehr an Bedeutung. Das gipfelte darin, dass ein Freund aus der Kletterhalle und ich eine richtige Hochtour planten.
Ich wusste zwar immer, dass ich auf keinem Berg dieser Welt einen Topf voll Honig und Liebe finden würde, aber ich bin eben ein Mensch. Ein Wesen, das verflucht ist, durch seinen überschüssigen Luxus an Bedeutung zu suchen. Und diese Bedeutung liegt scheinbar in Taten, die zu wiederholen nur wenige fähig sind.
Wir gingen zum Lidl, kauften ein Kilo Trockenfrüchte, ein Kilo Cashewnüsse, Haferflocken, Bananen, Avocados, Nudeln, Reis und alles ein, was wir brauchen könnten. Dann nahmen wir den Fernbus und fuhren nach Zürich.
Dort, am Carpark-Sihlquai, am 16. September 2014, ladeten wir unsere Fahrräder aus, bepackten sie mit jeweils 31 Kilo Gepäck und fuhren am Zürisee nach Süden.
Es war sehr warm und spätestens bei der saftigen Steigung in Wollerau Richtung Sattel hinauf - das waren mehr als fünfhundert Höhenmeter - liefen uns Schweißtropfen überall herab, die spätestens in der Unterhose zum Kochen anfingen.
Wir übernachteten wild am Urnersee, das Zelt direkt am Wasser, der Kocher brachte frische Energie.
Am nächsten Tag ging es über den Furkapass ins Wallis, und früh am übernächsten ins Fieschertal. Wir ladeten die Räder ab, zogen Bergstiefel an, luden die Rucksäcke auf und stiegen erst einmal tausend Meter bis zum Märjelen Gletschersee.
Dort war der Einstieg zum großen Aletschgletscher, der zum Glück schneefrei war.
Mit Steigeisen, Pickel und Seil suchten wir den besten Weg durch das Spaltenlabyrinth.
Dieser Gletscher ist gigantisch! Über vierhundert Meter ist die Eisschicht in der Mitte dick. Dementsprechend tief können die türkis schimmernden, fast anmutenden Löcher sein.
Nach nur zehn Minuten verursachte ich fast einen tödlichen Fehler: An einer steil abfallenden Stelle rutschten meine Steigeisen ins Leere, weil ich den Körper nicht weit genug nach vorne gelagert hatte. Dadurch fiel ich auf den Hintern. Vollkommen idiotisch blickte ich der tiefen Spalte vor mir entgegen. Richtigenfalls hätte ich mich sofort drehen und auf meinen Pickel drücken müssen, um das Abrutschen mit der großen Zacke zu bremsen. Mich bremste aber nur mein Glück.
Mit weit fortgeschrittener Tageszeit erreichten wir den Mittelaletschgletscher und nur noch mit dem letzten Tageslicht kletterten wir eine Stelle im vierten Grad frei. Dann erreichten wir das Mittelaletschbiwak, eine dünnwandige Hütte des Schweizer Alpenclubs auf 3000 Meter Höhe, in dem bis zu dreizehn Leute in den Betten schlafen können. Wir waren allein.
Nach einem ganzen Tag Rast, waren wir kurz vor sechs auf den Beinen. Über den an manchen Stellen nur 20 Zentimeter breiten Firngrat - links und rechts ging es bis zu 70 Grad steil hinab - kämpften wir uns zum Gipfel.
Kein Honigtopf, keine grandiose Offenbarung Gottes, obwohl dies der kälteste Gipfel der Alpen war. Das Aletschhorn auf viertausendeinhundertdreiundneunzig Metern.
Weil uns nichts anderes übrig blieb - und, weil dort oben der Wind höchstens in kalter Form herrscht - stiegen wir wieder hinab.
Wir stiegen auch vom Biwak herunter, über den mittleren sowie den großen Aletschgletscher, ließen uns von unserer eigenen Freude, sowie von der Sonne sowie vom Leben jodeln, hatten seit mehr als vier Tagen keine andere menschenseele erblickt, bis wir zum Rand des Aletschgletschers am Märjelensee kamen.
Gerold ließ den Pickel fallen und küsste den Boden. Dann, mit etwas arrogantem schmunzeln: "Ja wenigstens kommen uns da a' paar Schnecken entgegen."
Ja, welch Schnecken. Wieso auch, ich brauch' doch keine Schnecke, dachte ich. Aber diese Schnecke war nicht einfach "eine". Ihr notorisches Lächeln blickte herüber, über hundertfünfzig Meter entfernt. Ist das nicht...?
Nein, das konnte nicht sein. Hier im Nirgendwo.
"Gerold, ich glaub' das ist meine Ex-Freundin."
Ich schaute nochmal herüber. Sie schaute herüber. Ein beiges Tuch um den Hals, eine schwarze Bluse und dann dieser orange-gelbe Rucksack.
Die Frauen packten ihre Karte zusammen, machten sich auf den Rückweg.
Ich zog meinen Gurt aus, knüpfte die Steigeisen auf und schrie: "Frieda!"
Und sie drehte sich nicht um.
Noch einmal: "Frieda!"
Wieder drehte sie sich nicht, aber dann, nach ein paar Sekunden, wie wenn sie sich nicht direkt verraten wollte, schaute sie zurück.
"Gerold, wir sehen uns nachher. Diesen Moment lasse ich nicht einfach verstreichen.", sagte ich zum Seilpartner und rannte los.
Trotz der Erschöpfung der letzten sechs Tage stapfte ich hinterher.
An einem Wegekreuz schienen sie geradezu zu warten.
Und sie war es. Wieder einmal am 21. September.
Sie luden uns zum Essen ein, sie wären noch bis zum Abend im Dorf, dann würden sie den "Gleis 7" nach Basel nehmen.
Gerold und ich stiegen eine andere Route die tausendzweihundert Meter hinab. Wir würden uns treffen.
Es gab Essen, Reis und Couscous, es gab eine Frieda, die eher verhalten war und viel mit Gerold redete, wie um mich zu ärgern.
Und dann standen wir am Bahnhof...."

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Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

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