Forum / Poesie und Lyrik / Wahnsinn - Online-Magazin Team-Ulm.de

Und du guckst nach vorn, weil alle immer sagen: Guck nach vorn und du guckst nach vorn und da ist doch nur die Wand. Mittlerweile hast du die Fähigkeit in einer halben Stunden 15 Zigaretten zu rauchen und bei jeder einzelnen sagst du dir: Eine Zigarette hält mich davon ab, wahnsinnig zu werden. Du rauchst und rauchst und rauchst und rauchst und wirst trotzdem wahnsinnig.

Menschen in Zimmern. Menschen hier und dort. Umgeben von Wänden und Decken. Einige summen Lieder, andere nicht. Manche denken, sie hätten es verstanden, was passiert und warum das alles passiert und dann passiert es und sie stehen da und verstehen nichts. Ein paar nennen das Extremsituation, andere Alltag und wahnsinnig werden ist immer eine Option. Auch für dich, der sich so sicher fühlt.

Du fragst dich: Was passiert denn genau, wenn ich wahnsinnig werde? Sitz ich dann da und mach nichts mehr und in mir diskutieren Stimmen, was man alles machen könnte: Sowas wie: Kauf dir ein Himbeereis, bring deine Nachbarin um, die immer ihre dritten Zähne am Fenster zum Hof reinigt, zünd alle Mülleimer an, bring dich selbst um, häkel dir kleine Fingerpuppen und verfolge die Idee, Puppenspielerstar zu werden, lass bloß nicht von Dingen ab, die verloren sind, geh nur mit dem Schlafanzug bekleidet barfuß zum Dönermann um ihn einfach nur anzustarren, um ihn dann anzuschreien: Du bist überhaupt kein Koch, setz dich in die Sonne, nimm mehr Drogen, hör damit auf, nimm andere Drogen, verachte Drogen, aber nur 10 Minuten lang, dann nimm alle verfügbaren Drogen, kauf dir noch ein Himbeereis, kauf dir ein BMX-Rad und lasse es aus Sentimentalitätsgründen verrosten, verroste selbst, sei immer sentimental, scheiß auf alles, speziell auf dich, scheiß auf die anderen und ja, geh los und kauf mehr Himbeereis.

Die Leute in ihren Autos. Gucken. Rauchen. Fahren. Geben Gas an Ampeln. Und sie fahren vorbei und in jedem Auto ein paar Geschichten, die eigentlich dagegen sind, dass der- oder diejenige, der oder die das Auto fährt, das Auto fahren dürfte. Aber sie hören laute Musik und versuchen damit ihre Gedanken wegzubassen. Und die weggebassten Gedanken fallen aus dem Seitenfenster auf den Asphalt. Plingsagen sie und liegen auf der Straße. Wie als wenn man seitlich aus dem Fenster rausascht. Ungeachtet von Vorbeilaufenden. Ascht man die Welt zu. Und nur die Wahnsinnigen glauben, dass die Welt irgendwann zurückascht.

Sowieso: die Vorbeilaufenden. Das sind eigentlich die Schlimmsten, denkst du dir. Aber jedes Mal wenn einer an dir vorbei läuft, bist du auch einer, der an ihnen vorbei läuft. Geschichten, die sich überschneiden. Gestern hat ein unbekannter Junge, mit dem du ein paar Bier getrunken hast, weil er in Begleitung eines guten Freundes von dir auflief gemeint, dass er 98 % aller Menschen für Idioten hält. Auf die Frage, ob er sich da selbst mit einschlösse, sagte er nichts, sondern starrte dich lange an. Du starrtest zurück und dachtest, das wäre jetzt so eine Art Antwort. Deine eigene Idiotie ist dir erst viel später aufgefallen.

Wahnsinn hat so viele Gesichter. Zuweilen ist deins eins davon. Manchmal schaust du dich im Spiegel an, kämmst dir die Haare und suchst irgendwo das Kind in dir, dass du mal gewesen bist. Dieser verspielte, neugieige Brocken Harmoniesucht, der sich über Wiesen rollt und in ein ansonsten sorgenfreies Leben hineinorganisiert wurde. Und du taumelst an deiner Biographie entlang, als würde das irgendwas helfen. Du guckst dir die Punkte in deinem Leben an, an denen du hättest wahnsinnig werden können. Der Wahnsinn hatte oftmals Gelegenheit dein Leben zu okkupieren. Aber immer hast du ihn mit dem, was du Vernunft nennst, zurückgeschlagen.

Vorgestern war wieder so ein Tag. Der Wahnsinn wollte wegen irgendwas mit Liebe in dein Leben und du hast die Vernunft rausgeholt und dem Wahnsinn gesagt, dass er sich verpissen soll. Und er, der Wahnsinn, hat den Kopf gesenkt und so getan, als sei er ein Kind, mit dem keiner spielen wollte. So ein typisches Multi Sanostol Kind. Traurig durch Pfützen schlendernd. Grenzbereich Mitleid. Schön, hat irgendwer gemeint, dass du das immer noch so ganz ohne Medikamente, Klinikaufenthalte und Kuren schaffst. So als ob dein Leben eine niemals endend wollende Tube Panthenol wäre, die du auspresst und ausquetscht und so wird dein Leben schneller wieder gesund, wenn mal was brüchig ist, an der Oberfläche. Die Leute lächeln dich an, sie wissen nichts, wenn sie was wüssten, würden sie anders gucken, aber sie lächeln und auch du lächelst. Fassade, Fassade, Erdbeermarmelade.

Die rotweinblaue Zunge und der Versuch mit sich selbst abzuhängen ohne sich aufzuhängen. Du denkst an das Mädchen mit dem Servicelächeln. Wie wahnsinnig alleine das machen kann. Ein Lächeln, dass dich gefangen nimmt, aber ein Lächeln, dass jeder andere auch bekommt. Exklusivität ist nicht für jeden was. Was ist schon für jeden was, denkst du und gehst endlich raus. Nimmst den Hund an die Leine und in die Hand die Beine. Es ist nochmal gut gegangen, du hast dich gegen den Wahnsinn wehren können, auch wenn es beinahe aussichtslos ist. Du bist eine gekesselte Stadt, eine Stadt, die verloren hat gegen die Angriffe vom Wahnsinn. Du weißt nicht, wie viele das auch haben, denkst aber, dass es schon eine Menge Leute gibt, die manchmal etwas vom Gleis abkommen und plötzlich in einen Zug sitzen, mit dem sie nie unterwegs sein wollten.

Und du guckst nach vorn, weil alle immer sagen: Guck nach vorn und du guckst nach vorn und da ist doch nur die Wand. Mittlerweile hast du die Fähigkeit in einer halben Stunden 15 Zigaretten zu rauchen und bei jeder einzelnen sagst du dir: Eine Zigarette hält mich davon ab, wahnsinnig zu werden. Du rauchst und rauchst und rauchst und rauchst und wirst trotzdem wahnsinnig.

[zustimmen] 3 Personen stimmen diesem Beitrag zu:
Alexx91, -maze-, guyoncignito, ... mehr anzeigen

-maze-

- 38
Halbprofi (offline)

Dabei seit 01.2009
234 Beiträge

Geschrieben am: 21.05.2013 um 00:37 Uhr
Zuletzt editiert am: 21.05.2013 um 00:37 Uhr

Krass, im positivsten Sinn!

[zustimmen] 1 Person stimmt diesem Beitrag zu:
AryaStark, ... mehr anzeigen

Erfahrungsberichte und Überlebensstrategien aus emotionalen Randbezirken...

__Kamii

- 28
Profi (offline)

Dabei seit 10.2012
546 Beiträge

Geschrieben am: 21.05.2013 um 22:44 Uhr

Zitat:

Kauf dir ein Himbeereis, bring deine Nachbarin um, die immer ihre dritten Zähne am Fenster zum Hof reinigt, zünd alle Mülleimer an, bring dich selbst um, häkel dir kleine Fingerpuppen und verfolge die Idee, Puppenspielerstar zu werden, lass bloß nicht von Dingen ab, die verloren sind, geh nur mit dem Schlafanzug bekleidet barfuß zum Dönermann um ihn einfach nur anzustarren, um ihn dann anzuschreien: Du bist überhaupt kein Koch, setz dich in die Sonne, nimm mehr Drogen, hör damit auf, nimm andere Drogen, verachte Drogen, aber nur 10 Minuten lang, dann nimm alle verfügbaren Drogen, kauf dir noch ein Himbeereis, kauf dir ein BMX-Rad und lasse es aus Sentimentalitätsgründen verrosten, verroste selbst, sei immer sentimental, scheiß auf alles, speziell auf dich, scheiß auf die anderen und ja, geh los und kauf mehr Himbeereis.

Da sind teilweise sehr gute ideen drin ...

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Miau...

guyoncignito

Champion (offline)

Dabei seit 02.2009
11293 Beiträge

Geschrieben am: 21.05.2013 um 22:58 Uhr

Mir hats Hunger auf Himbeereis gemacht.
Aber echt sehr schön geschrieben.

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