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Forum / Poesie und Lyrik

Weil ich nicht lebensmüde bin

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 25.07.2012 um 20:43 Uhr

Die filigranen Gestänge und die aufgespannten Kautschuk-Teile wurden unsanft in die Böschung geschleudert. Daneben landete der Täter ungelenk auf dem mit Rollsplit übersäten Teerboden und fing unversehends an irgendwelche Gebärden von sich zu geben. Ein Beobachter würde sich nicht sicher sein, ob er schrie oder weinte. Jedenfalls sah er ziemlich niedergeschlagen aus. Seine Herzfrequenz kratzte noch immer ein bisschen über dem eigentlichen Maximum. Entsprechend hob und senkte sich sein Brustkorb.
Das ins Gras geschleuderte Objekt war ein grün-leuchtendes Centurion Megadrive Rennrad mit gelbem Lenkerband. Vorne mit drei Kettenblättern und hinten ein Ritzelpaket mit 8 Rädern. Um genau zu sein muss man hinzufügen, dass das große Kettenblatt vorne 54 Zähne und das kleinste hinten 12 Zähne zählt. Pro Pedalumdrehung im größten Gang dreht sich das Rad also viereinhalb Mal. Was bei einem durchschnittlichen Reifenumfang von 2,1 Meter knappe 10 Meter Fahrweg bedeutet. Wenn also mit einer moderaten Frequenz von 90 Umdrehungen die Minute getreten wird, bedeutet das eine Geschwindigkeit von 54km/h. Diese Berechnung sei hier aber nicht weiter interessant. Wir befinden uns hier nicht in der Ebene. Interessanter sind das kleine Blatt vorne und das größte hinten. Hierbei hat das Rennrad jeweils 27 Zähne. Keine Unter- oder Übersetzung, eher wohl eine Gleichsetzung. Bei einer maximalen Steigung von 37% sollte man sich eigentlich nach einer Untersetzung umschauen. Schade eigentlich, wie dumm von ihm.
Wir befinden uns hier nämlich an der dritthärtesten Steigung, die mit einem Rennrad befahrbar ist, (sprich: größtenteils geteert) vom gesamten Alpengebiet. Insgesamt belegt diese Straße Platz 14 der härtesten Fahrradstraßen der Welt. Und diese befindet sich sogar komplett auf deutschem Gebiet. Obwohl Deutschland nur eine einzige erwähnenswerte Passstraße aufweist haben wir diesen Wanderweg und Fahrstraße zugleich. Sie startet direkt hinter der Skisprungschanze in Oberstdorf, startet auf 800 Metern Höhe und endet auf 1932 Metern. Mit einer Länge von nur 9 Kilometern kommen wir somit auf eine durchschnittliche Steigung von gerade einmal 13%.
Leider ist dies aber nur der Durchschnitt. Denn die Fahrstraße beginnt mit moderaten 10-15 Prozent Anstieg auf den ersten paar Kilometern, nur um dann in einem Hochtal neben der Mittelstation der Bergbahn zum Nebelhorn über eine geraume Strecke geradezu flach zu sein. Dann beginnen die Höllenqualen.
Nur selten sieht man Verrückte, die es versuchen. Denn ab der Seealpe, ab der Mittelstation, ist diese Fahrstraße gleichzeitig ein Bergwanderweg. Wer hier nicht stirbt ist kein Mensch.

In einem zusehends zugeschnürten Talkessel fallen rechts von einem tröpfelnde Wasserfälle hinab und hinter einem hört man das immer leiser werdende Geläute der Wiedekuh-Glöckchen. Und vor einem liegt die erste Wand, der bitterste Vorgeschmack, den es je geben mag, denn man weiß von gut gemeinten Quellen wie quaeldich.de, dass es noch viel härter wird. Noch sieht man Wandererpünktlein größer werden, weil man mit aller Kraft und schon im kleinsten Gang gegen die Pedale bolzend schneller ist als sie. Die Straße nähert sich eine Wäldchen, führt immer steiler an die linke Wand des Talkessels hinan und wird erst einmal wieder moderat. Nach einer kleinen Biegung hat man kurz nur mit etwa 10% zu kämpfen, dann geht es rechts herum und eine wirklich lange, eigentlich nur 300 Meter Strecke, Gerade hinauf. Wer bis hierhin noch nicht absteigen musste wird spätestens in der nächsten Kehre sein blaues Wunder erleben.
Diese Wand hat den jungen Centurion-Rennradler erschlagen. Hier gibt es kein Rennrad-Training mehr. Das ist pure Angst. Angst mit dem Wissen, dass man es nicht schaffen wird, nicht schaffen kann. Am linken Rand der Steigung sind Holzbalken als Stufen für die Wanderer eingefügt. An dieser Geraden sind zusätzlich noch ganze 3 Abwasserrillen, die es ebenso zu überwinden gilt, wie die kleinen, aber zahlreichen Rollsplitfelder. 50 Meter sind es bis zur ersten Rille. Bis dorthin will er es schaffen. Er stellt sich auf das linke Pedal, hakt sich in die rechte Schlaufe ein, lehnt sich auf die Vorderhörner und zieht dann mit allem was irgendwie geht. In einer unüblichen Position - den Oberkörper nah am Lenker und gleichzeitig den Hintern nach hinten gestreckt, um irgendwie am Lenker mit Gewalt ziehen zu können und gleichzeitig noch genügend Gewicht auf dem Hinterrad zu haben - wälzt sich das Zweirad in nahezu schrittmotorartiger Bewegung - Tritt: es rollt einen Meter, Stillstand - Tritt - die Rampe hinauf. Nach genau diesen fünfzig Metern ist es zu Ende. Das Hinterrad rutscht auf einem Splithaufen aus und das Hirn, das bei einem Puls von über 195 nicht mehr genügend abbekommt um gleichzeitig völlige Konzentration, Gleichgewicht und Durchhaltewillen aufzubringen, gibt auf. Er schiebt bis zur nächsten Kehre. Dann wieder aufsteigen, wieder kämpfen bis zum bersten, um nur nach 100 Metern wieder zu sterben.
Als der erste Wanderer ihn überholt und er wegen dem Fahrrad, das er schieben muss, nicht mit diesem mithalten kann, ist die Frage nach dem Warum nicht fern.
"Wieso steigst denn bei dem kleinen Hügel denn schon vom Rad?", fragt er witzelnd. Schnaufend, lachend wird entgegnet: "Tja, sind ja nur schlappe 31%..."
Wenn bereits die im trägen Tempo gehenden wandernden Leute den Radfahrer überholen, läuft doch irgendwas falsch.
Also wird nicht mehr geschoben. Es wird solange an jeder Kehre gewartet, bis genügend Kraft für die nächste bereitsteht. Trotz diesem Vorsatz muss er immer wieder schieben. Oben an der DAV-Hütte gibt es kein Klatschen, keinen Heldenruhm. Höchstens ein paar unverständliche Blicke von den Leuten, die aus der Gondel steigen.

Was übrigens noch viel härter ist: die "Abfahrt". Denn da kann man nur schieben. Mit dem Fahrrad als rollendes, unkontrolliertes Gewicht gleichzeitig auch noch gefährlich. Ein entgegenkommender fragt: - ob Ernst oder Ironie war nicht erkenntlich - "Wieso schieben sie denn und fahren nicht?" - "Weil ich nicht lebensmüde bin."

Tja. So ist das halt als Mann. Kriegsersatz, Kampfersatz. Was auch immer.

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

TOTAL-CHAOS
Halbprofi (offline)

Dabei seit 07.2012
271 Beiträge
Geschrieben am: 25.07.2012 um 20:47 Uhr

so viel text

:weiner:
Valdir - 35
Profi (offline)

Dabei seit 06.2012
581 Beiträge

Geschrieben am: 25.07.2012 um 20:47 Uhr

Toller Aufsatz... :-D

Zart im Schmelz und süffig im Abgang.

Regenzeit - 31
Halbprofi (offline)

Dabei seit 07.2012
217 Beiträge

Geschrieben am: 25.07.2012 um 20:49 Uhr

Hast du eine eigene Seite wo du immer wieder was postest ?
sowas wie einen Blog ?

Und zum Schluss möchte ich alle kennen, die mich grüßen.

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 25.07.2012 um 21:12 Uhr

Klick mal hier im Archiv durch. In diesem Forum sind einige Sachen gespeichert.
Dies hier war das erste, das ich seit etwa einem halben Jahr geschrieben habe.

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

NoOneKnows
Champion (offline)

Dabei seit 12.2008
2723 Beiträge

Geschrieben am: 25.07.2012 um 23:02 Uhr

Zitat von I3I_4CKNINJ4:

Klick mal hier im Archiv durch. In diesem Forum sind einige Sachen gespeichert.
Dies hier war das erste, das ich seit etwa einem halben Jahr geschrieben habe.


verrat mir mal wie man threads per suchfunktion findet wenn man nach dem verfasser/ersteller sucht

<3



"ein mann, der keinen latakia raucht, gehört in den ofen. s.h." dieter giermann

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 26.07.2012 um 00:30 Uhr
Zuletzt editiert am: 26.07.2012 um 00:34 Uhr

Zitat von NoOneKnows:

Zitat von I3I_4CKNINJ4:

Klick mal hier im Archiv durch. In diesem Forum sind einige Sachen gespeichert.
Dies hier war das erste, das ich seit etwa einem halben Jahr geschrieben habe.


verrat mir mal wie man threads per suchfunktion findet wenn man nach dem verfasser/ersteller sucht

<3



Geht immer noch nicht, aber wenn du magst bekommst du von mir eine kleine Liste mit den Highlights dieses Herrn, die du dann (nur leider selber, hab glaub keine Links ) in die Suchfunktion eingeben musst :)

Das Schweigen ist also gebrochen, nach einem halben Jahr? Und was ist das Ergebnis: Eine feine Sisyphusgeschichte, und eine Menge Fragen. Woher kam das? Warum erst jetzt? Und: Wo führt das hin?

EDIT:
Liste:
Aktion: 2 Grabsteine zum Preis von einem
Alternierende Freiheit
Amateure der Straße
An das "Zwei-Wort-Kommentar"
Das melancholische Volksfest
Das viermalige Blinken
Daumen Hoch!
Die gefährlichste aller Lügen
Tagebücher, kurzgeschichten
Entropie der Deskription
Gedanken über den Fluss zum Turm
Heldensein
Horrorfilme
In einer Spelunke
Kinder unter 18 Jahren Counterstrike verboten
Sonntags-Klatsch
Spiele
Spuren der Erschöpfung
Statt erschlagen...
Todesqualen leidend
Unbekannter Heldentum
Warte, warte...
Wörterdiktat
Nacht
Moderne Korallen
Klaus-Dieter (mehrere)



Lecker Senf für alle!

NoOneKnows
Champion (offline)

Dabei seit 12.2008
2723 Beiträge

Geschrieben am: 26.07.2012 um 00:49 Uhr

wow. hier wird ja richtig archiviert.


<3



"ein mann, der keinen latakia raucht, gehört in den ofen. s.h." dieter giermann

Planktonn_ - 39
Halbprofi (offline)

Dabei seit 04.2012
353 Beiträge
Geschrieben am: 26.07.2012 um 05:26 Uhr

Ob wir jetzt mit den Fahrrad fahren oder nicht,
ich denke, die Todesoffenheit bringt erst
die Freiheit, die tiefe Gewissheit, "ich stelle meine
Wahrheit nicht infrage", egal was da kommen mag.

Ich habe da direkt an ein Video denken müssen:

Hans Milch
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