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Forum / Poesie und Lyrik

Das goldene Zeitalter

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 17.07.2012 um 23:05 Uhr

Das war sie also. Er hatte seit sechzig Jahren keine echten Erdbeeren gegessen und als er dieses kleine, schrumpelige Ding in der Hand hielt, das ihn an die Zunge eines kranken Menschen erinnerte, ekelte er sich beinahe.

Er kannte diese Form kaum noch. Die billigeren, die man in den Läden kaufen konnte, bestanden alle aus Nährlösung und Aromen, in dieselbe, herzförmige Form gespritzt. Bei guter Aufbewahrung hielten sie monatelang. Sie waren sehr gesund, wohlschmeckend und einfach in der Herstellung, aber kamen nicht an die Konsitenz der Echten heran.
Dafür gab es die teureren, sie wurden in großen Lagerhallen in Regaltechnik angebaut. Er war einmal dort gewesen, im Rahmen eines Vortrags. Da standen in riesigen Lagerhallen zahllose Regale von etwa einem Meter Breite. An der einen Seite waren die Töpfe mit dem Nährboden angebracht (er war sich aber unschlüssig, ob es überhaupt Töpfe gegeben hatte und die Pflanzen nicht vielleicht über Luftwurzeln mit Nährlösung versorgt wurden). Man hatte den Erdbeerpflanzen lange Ranken angezüchtet, mit denen sie sich waagrecht an einer entlang Drahtschnurr entlang hangelten. Unter den Drähten war ein Förderband angebracht, das die reifen Erbbeeren, die mittlerweile von alleine abfielen, wegtransportierte. Mehr als die Technik, die ihn vage an Legebatterien früherer Zeit erinnerte (oder hatte es damals überhaupt schon Legebatterien gegeben und wenn ja, was verwendeten sie heute? ), faszinierte ihn das merkwürdige Raster, das die Pflanzen bildeten. Jede Beere wuchs in einem exakten Abstand von fünf Zentimetern zu nächsten, nach oben waren es zehn, der Förderbänder wegen.
Was er davon hielt, wollten sie wissen und er konnte nichts dazu sagen. Er kannte ihre Argumente und verstand, dass es für alle das Beste so war. Keiner musste sich mehr bücken, damit der andere zu essen hatte, es gab keine Schädlinge, keine Qualitätsschwankungen und alles benötigte viel weniger Platz. Aber etwas musste er ihnen sagen, denn ihre Siegesgewissheit ärgerte ihn, und ihre weißen Anzüge. Er schüttelte allen die Hände, wie das so üblich war und ließ ein paar lobende Worte fallen, in die er einflocht, dass es früher irgendwie trotzdem besser war, man mehr Unterschied zwischen den Beeren geschmeckt habe, dass man den Beeren anschmeckend konnte, wo sie gewachsen waren, ja und auch, ob sie mit Liebe gepflückt worden waren. Die drei in ihren Kitteln bekamen frostige Mienen. Sie hatten von ihm, als dem Letzten seiner Zeit mehr Unterstützung erhofft, schließlich wollten sie sein Gesicht auf der Verpackung haben und den Slogan "Wie in alten Zeiten" daneben. Irgendwie zog diese Masche immer noch, aber ohne sein Gesicht war sie wirkungslos. Diese merkwürdige, vergangene Zeit lag an der Grenze zum Mythischen aber ohne sein Gesicht war das den Menschen zu vage, obgleich es fasznierte.

Er hatte es irgendwie geschafft, selbst Samen aufzutreiben und nun, im Sommer waren tatsächlich ein paar kümmerliche Pflänzchen gewachsen. Er ging stündlich zu dem Kübel, in den er sie gepflanzt hatte, um genau ihren Rötegrad zu untersuchen. Ein kleines Beerchen war von der Pflanze auf die Erde gefallen, und dieses Beerchen wollte er nun essen. Die anderen, die noch an ihren Stengeln hingen, waren ihm zu heilig, als das er sie abpflücken wollte.

Das war sie also. Er hatte seit sechzig Jahren keine echten Erdbeeren gegessen und als er dieses kleine, schrumpelige Ding in der Hand hielt, das ihn an die Zunge eines kranken Menschen erinnerte, ekelte er sich beinahe.

Aber dann biss er doch hinein, ignorierte die schimmlige Bitterkeit der Haut und zerkaute das Beerchen so gründlich, dass nur ein warmer, süßsaurer und unglaublich echt schmeckender Saft in seinem Mund blieb. Das war sie. Nach beinahe sechzig Jahren. Nichts, was dem Geschmack irgendeines Zeitgenossen nur im Geringsten entsprochen hätte und das verstand er nur zu gut. Und genau genommen ging es nicht um den Geschmack, sondern um das Gefühl der Grenzüberschreitung. Er begriff, dass er der geborene Nostalgiker war. Hätte es irgendwelche messbaren Beweise gegeben, dass das Leben nicht, wie er es stets sagte, früher schöner, reiner und besser gewesen wäre, er hätte sich seiner Identität beraubt gefühlt. Nicht nur seiner, aller. Sie alle lebten in dem Glauben, dass er Recht hatte und sie nur eine aufgepropft Kultur waren, die auf reichen und merkwürdigen Geheimnissen der Vergangenheit gegründet war. Abgesehen davon, das es nicht stimmte, es gab keine Beweise für seine glückliche Vergangenheit, das merkte er jetzt, und es hatte sie wohl nicht einmal gegeben. Das Leben zu "seiner Zeit" war unter keinen Umständen besser gewesen. Er war nur dadurch sicher gewesen, dass niemand ihm beweisen konnte, wie es wirklich war. Ovid hatte einmal geschrieben, die Erdbeere sei die Speise des goldenen Zeitalters, des Urzustands, und das lag weiter zurück, als seine begrenzte Konzeption von Vergangenheit. Hier, zwischen den beiden Zeiten, dem Anfang und der Gegenwart, die zugleich die sichere Zukunft war, lag seine eigene Vergangenheit und sie war nicht der Höhepunkt, sondern der unterste Punkt der Kurve einer Hängebrücke.

Sein verwöhnter Neuzeitmagen meldete sich zu Wort, kaum, dass das Beerchen seine Kehle hinuntergerutscht war. Er übergab sich freiwillig.

Lecker Senf für alle!

raubelefant - 40
Champion (offline)

Dabei seit 11.2009
2426 Beiträge

Geschrieben am: 17.07.2012 um 23:27 Uhr

erinnert mich an soylent green

Odi profanum vulgus et arceo-Ich verachte den ungebildeten Pöbel und meide ihn

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 17.07.2012 um 23:36 Uhr
Zuletzt editiert am: 17.07.2012 um 23:44 Uhr

Zitat von raubelefant:

erinnert mich an soylent green


Kannte ich nicht, habs aber dann gleich, wie sagt man, wikipedialisiert.
Hm, vielleicht ist ein bisschen was dran von der Thematik her, aber ich dachte mir die Welt hier eher als ein hochtechnisiertes Utopia, in dem es diesen Luxus für jedenmann gibt.
Und den Protagonisten als eine Art nostalgischen Winston Smith, der eigentlich überhaupt keinen Anlass zu seiner Nostalgie hat. Also eine Umkehrung, eine Dystopie, die eigentlich eine Utopie ist.

Lecker Senf für alle!

Analogfan82 - 42
Champion (offline)

Dabei seit 09.2006
2036 Beiträge

Geschrieben am: 18.07.2012 um 01:04 Uhr

So unrealistisch ist das mit der Erdbeerproduktion gar nicht, dass ist inzwischen schon vollautomatische industrielle Massenproduktion, zumindest wenns um Importware geht oO....

http://daniels-modellwelt.npage.de ---> Einfach mal reinschauen, Besucher sind willkommen ;-)

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 18.07.2012 um 08:38 Uhr

Bei Lidl gibt es gerade ein "Nostalgie"-Fahrrad zu bestellen, ein wahrlich wahrer Irrsinn.

Ich verstehe nicht ganz - wenn du es also selbst als Utopia bezeichnest, siehst du diese, dortige Welt als etwas Gutes an (?). So, wie du aber sprachlich damit umgehst, könnte man meinen, dass du beide Welten (die alte und die neue) als lächerlich empfindest.
Feine Leckerbissen sind die "Nie wieder bücken"-Aussage und die "schimmlige", echte Erdbeere. Erinnert doch irgendwie ein bisschen an Wall-E, die Menschen auf dem Raumschiff, die nicht einmal mehr aufstehen können.
Insgesamt aber von der Wirkung und Stimmung her fühlt es sich ziemlich wie Schöne neue Welt an.

---Wikipedia-Nachlese---
Achso, Winston war von 1984. Nene, also wie Winston fühlt sich das nicht an. Viel eher wie die erste Hauptfigur von Schöne neue Welt. (dessen Name ich vergessen habe)

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 18.07.2012 um 21:50 Uhr

Zitat von I3I_4CKNINJ4:

Bei Lidl gibt es gerade ein "Nostalgie"-Fahrrad zu bestellen, ein wahrlich wahrer Irrsinn.

Ich verstehe nicht ganz - wenn du es also selbst als Utopia bezeichnest, siehst du diese, dortige Welt als etwas Gutes an (?). So, wie du aber sprachlich damit umgehst, könnte man meinen, dass du beide Welten (die alte und die neue) als lächerlich empfindest.
Feine Leckerbissen sind die "Nie wieder bücken"-Aussage und die "schimmlige", echte Erdbeere. Erinnert doch irgendwie ein bisschen an Wall-E, die Menschen auf dem Raumschiff, die nicht einmal mehr aufstehen können.
Insgesamt aber von der Wirkung und Stimmung her fühlt es sich ziemlich wie Schöne neue Welt an.

---Wikipedia-Nachlese---
Achso, Winston war von 1984. Nene, also wie Winston fühlt sich das nicht an. Viel eher wie die erste Hauptfigur von Schöne neue Welt. (dessen Name ich vergessen habe)


Nene, John ist konkreter, er hat nicht so ne difusse Sehnsucht nach etwas, was er eigentlich nicht kennt. Das wollte ich erst schreiben.
Dann ist mir aber eingefallen, dass er ja Shakespeare liest und sich nach Shakespeares Zeit sehnt. Also hast du recht, John passt besser.

Lecker Senf für alle!

raubelefant - 40
Champion (offline)

Dabei seit 11.2009
2426 Beiträge

Geschrieben am: 18.07.2012 um 23:36 Uhr

Zitat von Morrigane:

Zitat von raubelefant:

erinnert mich an soylent green


Kannte ich nicht, habs aber dann gleich, wie sagt man, wikipedialisiert.
Hm, vielleicht ist ein bisschen was dran von der Thematik her, aber ich dachte mir die Welt hier eher als ein hochtechnisiertes Utopia, in dem es diesen Luxus für jedenmann gibt.
Und den Protagonisten als eine Art nostalgischen Winston Smith, der eigentlich überhaupt keinen Anlass zu seiner Nostalgie hat. Also eine Umkehrung, eine Dystopie, die eigentlich eine Utopie ist.


schau dir den film mal an. lohnt sich echt. da findest du bestimmt noch einige inspiration zu diesem thema.

Odi profanum vulgus et arceo-Ich verachte den ungebildeten Pöbel und meide ihn

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 18.07.2012 um 23:41 Uhr

Zitat von raubelefant:

Zitat von Morrigane:

Zitat von raubelefant:

erinnert mich an soylent green


Kannte ich nicht, habs aber dann gleich, wie sagt man, wikipedialisiert.
Hm, vielleicht ist ein bisschen was dran von der Thematik her, aber ich dachte mir die Welt hier eher als ein hochtechnisiertes Utopia, in dem es diesen Luxus für jedenmann gibt.
Und den Protagonisten als eine Art nostalgischen Winston Smith, der eigentlich überhaupt keinen Anlass zu seiner Nostalgie hat. Also eine Umkehrung, eine Dystopie, die eigentlich eine Utopie ist.


schau dir den film mal an. lohnt sich echt. da findest du bestimmt noch einige inspiration zu diesem thema.


Werd mich mal durchfragen, wer in meinem Umkreis den hat. Danke!

Lecker Senf für alle!

Planktonn_ - 39
Halbprofi (offline)

Dabei seit 04.2012
353 Beiträge
Geschrieben am: 19.07.2012 um 17:57 Uhr

Einfach wunderbar, es schmeckt, es schmeckt :)
Mehr fällt mir dazu aber nicht ein.
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