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Forum / Poesie und Lyrik

Zum ersten Mal zieht er die Jacke vorher an

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 23.12.2011 um 11:16 Uhr

"Gute Schreiber sind doch immer grausam", sagte Tripf zu Mik, eigentlich einfach nur so, weil es ihm zu still schien, zu unlebendig, zu wenig Vielfalt schien ihm im Raum zu wandeln.
Aber Mik ward nicht mehr der Alte: "Hm", kam nur zur Antwort. Da hätte Tripf gleichfalls auch mit einer Wand reden können. Der Grad an Arroganz ist in unserer Gesellschaft wirklich unermesslich hoch: So behaupten wir doch auch eine Aussage machen zu müssen, auch wenn wir gar keine Aussage haben, wir geben also Laute von uns, die nichts bedeuten und erfinden so Dinge wie "Hm", "Naja" oder Ähnliches.
Nun lass uns aber zuerst einmal erklären wieso Mik so reaktionslos, so wenig sprunghaft und explosiv erscheint; denn normalerweise bastelt er doch einen Papierflieger, wenn er nur einen Schnipsel zugeworfen bekommt.
Mik ist der Computerspielsucht verfallen. Er hat sein Herz, seine Liebe, seine Kreativität, seine Fitness und Gutmütigkeit von flimmernden Bildern und vorgebebenen Barrieren zerfressen lassen. Die Aussagen, dass er früher, unter den Fittichen seines Vaters, nie die erforderliche Computerleistung und auch nie die Freiheiten gehabt hätte, und, dass er doch gerade nicht joggen oder Klettern gehen sollte, weil seine Freundin gerade ebensolches aufgrund ihrer Kreuzband-OP nicht machen kann und er, wenn sie wieder gemeinsam Sport machen können, auf gleichem Leistungsniveau sein möchte, sind doch alles nur Ausreden.
Deswegen hat sich auch sein Ruhepuls auf über siebzig Schläge in der Minute gesteigert. Auch einen kleinen Bauch hat er bekommen. Das ist der absolute Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass er erstens noch vor drei Monaten den Stelvio und den Gavia (das sind die zweit- und sechsthöchsten Pässe der Alpen) an einem Tag mit dem Fahrrad bewältigt hatte und er zweitens jahrelange Probleme mit extremen Untergewicht hatte.
Nun aber zurück zur Handlung:
Tripf bemerkte nach der eher bescheidenen Reaktion seines Freundes, dass er zu seiner Aussage ja noch eine Erklärung bringen könnte:
"Das verhält sich ganz einfach: Beim Lesen einer Geschichte eines guten Schreibers verliebt man sich in die Geschichte, man wird zu der ganzen Story und frisst jedes Wort wie von Gott legitim erklärt in sich hinein, vergisst seine eigene Welt um sich herum. Das ist die Einleitungsphase der Grausamkeit. Denn jeder Autor oder Schriftsteller, oder sonstjemand, der sich mit Worten beschäftigt, wird - egal wie gut, souverän und virtuos er auch sein mag, ..."
"Verdammte Scheiße", rief Tripf abrupt und klappte den Laptop von Mik zu. Dem nicht genug: er zog das Netzkabel heraus, die Maus aus der USB Buchse, nahm das Rechenwunder in die Hand und schlug es mit aller Kraft gegen die Tischkante, sodass sich zumindest der Akku und das Display sosehr verbogen, dass vorerst ein irreparabler Zustand bestand.
Wie aus einem makallos erdachten Traum erwacht saß Mik mit riesengroßen Augen in seinem weichen Bürosessel und starrte auf den zerknickten Laptop: Seine Lippen bewegten sich und er brabbelte flüstern leise: "Ei-Core fünf mit 'ner Rädon vierundsechzig..."
Wumms. Tripfs Faust landete in Miks Bauch. Das ist zugebebenermaßen wirklich schmerzhaft, wenn man solch einen Schlag in sitzender Position abbekommt. Miks Kopf kippte erst einmal nach vorn. Dann klatschte ihm Tripf kräftig an die Backe und schüttete ein Glas Wasser gegen sein Gesicht.
"Bist du wach?", wurde er gefragt.
Nach einem kurzen wiederbelebenden Kopfschütteln konnte Mik ein "Ja" von sich geben.
"Dann gehen wir jetzt raus", befahl Tripf. Schneeregen und leichte Windböen ist nicht gerade die Wetterlage, um einem depressiven, in sich versunkenen zum Rausgehen zu bewegen. Aber in dieser Form gab er sich dem Schicksal hin.
Die Kälte schon spürend, schon erahnend, zog sich Mik zum ersten Mal seine Jacke vor dem Hinausgehen an. Sonst war es ihm nie ermöglicht gewesen: Da er sich einen Hitzepanzer an seinen Körper trainiert hatte, hätte ein Anziehen der dickeren Kleidung vor dem Eintreten der kälteren Temperatur ein anfängliches Schwitzen und ein Gefühl des Überheiß-seins bedeutet.
Nun war das aber nicht mehr so.

Als sie auf ihren Rädern saßen und Mik schon kleine Blitze an der Haut seines Oberschenkels spürte, aufgrund der nur minimal dünn gehaltenen, schon durchnässten Jogginghose und der dadurch folgenden Kälte, zeigte sich ein bisschen Leben aus seinem Mund:
"Schönheit entspringt der Welt nur durch ihre Vielfalt."
Tripf musste lachen, weil er sah, wie sein Freund von den Toten auferstanden war.
"Weißt du nun, warum gute Schreiber grausam sind?", fragte er, seinen Satz von vorher wiederholend.
"Egal wieviel Worte sie auch kennen, egal wie gut sie auch beschreiben können, auch wenn sie dich lange verzaubern, hat jede Geschichte mit einer anderen gemein, dass sie endet und irgendwann enden muss."
Unter Hupen von netten Autofahrern begrüßt, fuhren sie Nebeneinander durch die Straßen voll Pfützen in eine neue Welt hinein.

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

bigfeet - 30
Profi (offline)

Dabei seit 03.2009
568 Beiträge

Geschrieben am: 23.12.2011 um 12:03 Uhr

nicht schlecht.

echt gut geschrieben :daumenhoch:

Es ist die kleine Stimme in dir die sagt Fick dich ich habe recht

-emJay_ - 33
Anfänger (offline)

Dabei seit 04.2011
22 Beiträge

Geschrieben am: 23.12.2011 um 15:04 Uhr

irgendwie süß :D

https://soundcloud.com/emjay

Felya - 30
Halbprofi (offline)

Dabei seit 07.2008
291 Beiträge

Geschrieben am: 23.12.2011 um 15:21 Uhr

i like :)

Eure Seelen wollen atmen, also zieht euch aus :)

this_ending - 33
Fortgeschrittener (offline)

Dabei seit 07.2009
67 Beiträge

Geschrieben am: 23.12.2011 um 18:25 Uhr

dein schreibstil ist bewundernswert ;)

Atheism Saves

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 27.12.2011 um 09:54 Uhr

Ich sehe es als Beleidigung an, wenn ihr in diesem Werk nur "schwarz" oder "weiß" entdecken könnt.

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

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