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Forum / Poesie und Lyrik
Taenia saginata - Eine Liebesgeschichte

Tunex
Halbprofi
(offline)
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294
Beiträge
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Geschrieben am: 10.04.2011 um 20:25 Uhr
Zuletzt editiert am: 11.04.2011 um 09:25 Uhr
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Tag 0:
Ich sah dich, kleine Beere, am Wegesrand. Wie eine kleine Christbaumkugel hingst du einsam am vertrockneten Ast eines entnadelten Weihnachtsbaumes von einem Strauch, beim Aufräumen nach dem Frohen Fest vergessen. Ein kleines Stück fleischiges Leben inmitten von grauer Dürre. Ich wollt vorübergehen, aber du warst so klein und doch nicht zu übersehn, leuchtetest mir in den Augenwinkel wie ein einsamer Stern am dunklen Himmelsband. Ich nahm dich in die Hand, rollte dich kurz unter dem sanften Druck von Daumen und Zeigefinger hin und her und besah dich mit dem pseudoprüfenden Blick eines Möchtegernkenners, der einen Kunstgegenstand in der Auslage auf dem Ramschmarkt der Strandpromenade um die Ecke vom Hotel begutachtet, und schon warst du in meinem Mund verschwunden, denn du warst nicht meine erste Beere, dazu gesund, und ich dachte mir nichts. Ich mag Beeren.
Tag 66:
Seit heute hat es einen Namen. Auf einem kleinen Rollhocker vornübergebeugt und die Unterarme auf den Knien, ein sorgenvoll glänzendes Faltgebirge zwischen dem kahlen Hochplateau und dem randlosen Glas der auf seine Nasenflügel hinabgerutschten Brille, sah er mich ernst mit vor Kurzsichtigkeit glänzenden Augen an und taufte das, was mich so dünn macht in diesen Tagen, "Taenia saginata". Taenia saginata. Mehr gibt es nicht zu sagen. Mein Lohn. Noch während der trockene Mund unter den Brillengläsern sich bewegt, ballt sich mein Inneres zu einer kleinen heißen Kugel zusammen, einem Schneeball aus Magma gleich, den zwei behandschuhte Kinderhände knirschend in Form pressen, mein Magen wird zu Stein und durch den wabernden Schleier einer Wirklichkeit dringt eine in Grund und Boden verzweifelte Vokalisierung der unbeschreiblichen Fassungslosigkeit über diese grausame Abschlachtung meines unschuldigen Bildes von dir, kleine Beere, von einem weit entfernten Ich in mein Bewusstsein. "Aha"
Tag 67:
Ich bin ein Verurteilter. Starre auf meinen kleinen, gnadenlosen Henker aus honiggelbem Glas, liefere mir mit ihm ein Wettstarren, schweißglänzendes Blinzeln vom zitternd gekrümmten Todgeweihten gegen den eiskalt plastenen Blick aus kleinem weißem Helm, der es nicht besser wissen muss. "Ein toter Mann auf der weißgekachelten Meile vor dem Badezimmerschränkchen.", höre ich ihn in pflichtbewusstem Ernst, dennoch nicht ohne Hohn in die einsam hallende Leere meiner Todeszelle verkünden.
Ich bringen die Scheiße ins Rollen. Plötzlicher verschleierter Griff meiner fettigen Fingerkuppen reißt ihm seinen Helm vom Kopf, ich starre einen Augenblick in den dickflüssig wabernden Tod abwärts des dicken schwulstigen kleinen Halses und gleich dem unheilbringenden Tropfen der meine Kehle abwärts rinnt und meinen halben schmelzenden Unterleib mit sich zu reißen droht wie bei einem Vulkan im Kopfstand, krachen Sturzbäche panischer Neuronenreize aus den entlegensten Winkeln desselben ihnen entgegen und sammeln sich in einem rasenden Kanal, der gleich einem berstenden Damm in meiner Stirn in einem ohrenbetäubenden Aufschrei himmelhoch schlagender Wellen mündet und sie zum explodieren zu bringen droht. "Lauf!!!"
Tag 2847563:
Kalt pressen sich die knochigen Dornen meiner Knie an meine Wangen. Kalt kratzt die Beinbehaarung mein Kinn. Kalt meine verdrehten Füße vor weißgekacheltem Hintergrund, dessen feines Äderchengeflecht von Rissen ich so gut kennengelernt habe in dieser so lang andauernden Phase meines Lebens. Ein halber Quadratmeter geflieste Welt. Sie allein, die Dornen, die Haare, die Kälte machen mich etwas fühlen, ziehen mich aus den Abgründen einer betäubenden Tyrannei satanischen Brennens. Ich bin ein Fakir, der verknotet auf dem langen Hort der Bewusstseinsflucht sich ertrinkend ans Diesseits zu klammern bemüht ist, an diese kalte, zitternde Wirklichkeit.
Ich weiß wie sich der lecke Wasserturm fühlt, wie das unbenutzte abgelassene Schwimmbecken, in dem Haare und Wundpflaster wie totes Gewürm als zurückgelassene Leichen in Einsamkeit vertrocknen, wie die zerquetschte und verkrümmte Zahnpastatube von grausamsten Versuchen gemartert, auch den letzten Rest ihrer minzigen Daseinsberechtigung aus der fast toten Hülle zu foltern. Mein Darm ein zur Waschung umgekrempelter Jackenärmel, ausgefüllt von schreiender Leere, ein sich verkrampft zuckender Aal auf dem Trockenen, der nur immerzu "Raus, Raus!" schreit, umhängt von schlaffen, kalten Marionettengliedern, die unregelmäßig epileptisch, ja fast lächerlich anmutende Aufbäumversuche zeigen wie ein Ertrinkender. Das bin ich.
Ich mag Beeren trotzdem.
stop... hammertime
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I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
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Dabei seit 06.2005
1618
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Geschrieben am: 10.04.2011 um 21:27 Uhr
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Ich verstehe nicht ganz, wie die 80.000 Lebensjahre zustande kommen...
Ansonsten muss man wirklich die akribische Genauigkeit loben, die hier angewendet wurde. Ich fände es zwar interessanter, wenn der Leser noch ein wenig mehr zum Rätseln gehabt hätte, indem du die Bezeichnung weggelassen hättest. - Um nicht der Versuchung nachzugeben, bei Wikipedia nachzuschauen.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
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Tunex
Halbprofi
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Dabei seit 05.2007
294
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Geschrieben am: 10.04.2011 um 21:35 Uhr
Zuletzt editiert am: 10.04.2011 um 21:54 Uhr
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Sieh es doch einfach als 8000 (ich komm nur auf knapp 8000 :D) gefühlte Jahre 
und die Bezeichnung: ja vllt. wäre es besser gewesen sie wegzulassen.... war für mich eine sache der ästetik um ehrlich zu sein :D
mein alternativtitel wäre "Eine liebesgeschichte" gewesen. hört sich aber scheiße an find ich.
stop... hammertime
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GabBy - 30
Halbprofi
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Dabei seit 06.2009
166
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Geschrieben am: 11.04.2011 um 13:12 Uhr
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ich find es ist wirklich gut geschrieben. Ich weiß nicht warum aber iwie erinnert es mich ein wenig an den Schreibstil von "She the ultimate weapon- the last lovesong on this planet" wobei es doch total anders ist.
Großes Lob . Respekt
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Morrigane
Profi
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Dabei seit 07.2006
955
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Geschrieben am: 11.04.2011 um 22:17 Uhr
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Originell und sprachgewaltig.
Lecker Senf für alle!
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Tunex
Halbprofi
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Dabei seit 05.2007
294
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Geschrieben am: 14.04.2011 um 10:40 Uhr
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Zitat von GabBy: Ich weiß nicht warum aber iwie erinnert es mich ein wenig an den Schreibstil von "She the ultimate weapon- the last lovesong on this planet" wobei es doch total anders ist.
also wie du darauf kommst ist mir ein rätsel XD aber wie du selbst sagst du weißt es ja auch nicht.
stop... hammertime
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