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Forum / Poesie und Lyrik
Das viermalige Blinken

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
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Geschrieben am: 08.12.2010 um 23:09 Uhr
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Ein konsequenter Gesundheitsapostel, fünfundzwanzig, drahtig muskulös, aber noch mit einem Gesicht, das noch kein Barthaar erblickte, steht am Rednerpult; Nickname: Verdrussprediger
"Ach, wie schön es ist, ohne Wecker aufzustehn'. Trainiert man sein Gemüt, so schafft mans kerzengerade zur richtigen Uhrzeit dem Sonnenaufgang entgegen zu blicken.
Heute war ich sicher, dass ich es pünktlich zu Ökonomie Vorlesung schaffen würde. Zwar schmatzt und redet der Professor wie ein Maulwurf, aber mit einer nicht vorhandenen Lernkonsequenz sollte man sich zumindest von der Powerpoint-Präsentation berieseln lassen. Also ab ins Bad, dann in die Küche und das Kilo Nudeln, vermischt mit Knoblauch, Tomaten, Sahne, Eiern und Käse in die Plastikbox, einen Löffel dazu und ab geht die Post. Raus aus der Türe, mit Schloss, mit Soft-Shell-Überzug und eine Mütze auf den Kopf.
Es schneit schon wieder gar, vielleicht noch immer, welch schöner Anblick, also knirsche ich zum Holzverschlag, um das schöne schwarz-geflügelte Gefährt zur Startbahn zu schieben. Das Fahrrad allerdings, lässt die Flügel liegen. Verdruss, ja, Gott, was hab ich nur getan? Jeden Tag 'nen Platten und zwar wochenlang. Die verschmitzte Rechtfertigung wandert durch den Kopf: Ich wollte wirklich pünktlich kommen.
Also wieder herauf, die selbstklebenden Flicken holen, oder doch erst der Unlust freien Lauf lassen?
Zwei Stunden später, endlich bereit, mit viereinhalb Bar in den Flügeln, schreite ich auf die Straße, nichts soll mich nun noch Zügeln.
Das Rennen hat begonnen, und der Kopf funktioniert nur noch wie 'ne Maschine. Der Radweg liegt noch imme voller Schnee, also nehm' ich die Straße. Zwar begrüßt das keines der vierrädrigen Panzerfahrer, aber bei dieser Witterung beweisen sie selbst, dass sie sich kaum trauen ihr Tachometer über die 30 hüpfen zu lassen.
Die Straße ist schmäler als sonst, weil sich die weißen Kristalle zu Millionen an und links und rechts der Bordsteinkante türmen. Also wird man sogleich das erste Mal schon angehupt, und als das stinkende Gefährt seine roten Backen zum besten gibt, schreit der Fahrer: "Do hoats au an Rodweg!" - Schade, dass ich mein Schloss gerade nicht am Lenker trage, sonst hätt' ichs ihm gleich ins Gesicht geworfen. Natürlich wird keiner einen Radler verstehen.
Die Autos haben das königliche Privilieg auf den Straßen, sie sind die unangefochtenene Fürsten. Zwar nehmen sie idiotischerweise 25 mal so viel Platz ein, wie die darin sitzende Person, aber sie sind ja so affig schnell. Für Radler gibts ja Radwege. Aber daran zu denken, dass Schneearbeiter komischerweise zu blöd sind, um den Streifen für Zweiräder zu räumen, diesen geradezu absichtlich auslassen, das kommt nicht in die Tüte. Ja, und wenn es doch einmal vorkommen sollte, dann ist er sowieso von Spaziergängern versperrt. Man muss sich schon fragen, wo das Schild "Hey, ich bin vogelfrei" versteckt sein mag, bei solchen suizidgefährdeten Erscheinungen. Vor allem im Winter. Mit zwei Rädern hat mans nicht gerade leicht durchgehend aufrecht zu stehen, und dann bei jedem Menschen herunterbremsen?
Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich tagsüber nicht gern meine Zeit damit verschwende zu sitzen, warten und zu sitzen? Ich mag nicht tatenlos in der U-Bahn sitzen. Jeden Tag eine knappe Stunde nichts tun, warten, berieseln lassen von sogenannter Musik, Schwachsinn lesen, wovon wir wissen, dass wir ihn insgeheim nicht brauchen, Däumchen drehen, Mädels begaffen oder einfach nur ins Leere starren, auf unkomfortable Weise sein Schlafdefizit zurückholen, obwohl man weiß, dass es nichts nützt... Das sind zweihundert Stunden im Jahr, Minimum. Dankesehr, Modernophile. Ich habe Zeit, und zwar genügend, jeden Tag. Es gibt gar keinen Stress, wenn diese ganzen Autos nicht wären. Wieso denn ein Buch über das Erobern der Straße schreiben, wenn man doch gleich mit Gewalt dafür sorgen könnte, dass sich der Anteil von Radlern zu motorbetriebenen Gefährten einfach umdreht, auf einen über Neun zehntel großen Anteil des Verkehrs an Radfahrern, Skatern, Scooter-Fahrern und auch Joggern.
Aber ein jeder trägt ja ein Banner um die Ohren:" Es lebe die Faulheit, es lebe die Dummheit, es lebe der Abschaum und es lebe der Konsum, die Einfachheit, der unendliche Luxus..."
Aber es ist ja auch gut so. Automatisch werden diese aussortiert, automatisch werden sie dazu trainiert, irgendwann mit dem Auto zum Fernseher zu fahren, oder auf dem Weg zum Kühlschrank einen Strafzettel zu bekommen. Schon heute ist die Sprache der Affen ein Zeichen dafür, zum guten Ton zu gehören. Reduktionisten und Agnostiker wie Sand am Meer, der Glaube, der Glaube ist sonst so leer.
Aber was rede ich denn? Ich bin ja immer noch auf dem Weg zum Kino. Ja, wirklich. Denn die Vorlesungen werden im Filmsaal abgehalten.
Dreizehn Sekunden sind es etwa noch, bis sie anfängt zu blinken, die Ampel. Noch hundert Meter, also gebe ich Gas, obwohl mir das Vorderrad im Schneematsch schon zu rutschen beginnt. Grün, schwarz, grün, tret' in die Pedale, grün, schwarz, grün, schwarz - noch 3 Meter - und orange und durch..."
Keiner klatscht, keiner wirft Tomaten. Und auf einmal setzen sich 25000 Menschen auf ihre Räder und erobern die Straße.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
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7bored - 33
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Geschrieben am: 08.12.2010 um 23:18 Uhr
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gibts das auch als hörbuch?
Now is the time!
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Filmriss - 36
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Dabei seit 11.2009
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Geschrieben am: 08.12.2010 um 23:52 Uhr
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sie geschichte ist cool
auch wenn mich die satzführung an kohlhaas erinnert
mehr punkte und weniger kommas und das lesen ist viel angenehmer
Into the motherland the german army marches...
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Jolly_Roger
Halbprofi
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Dabei seit 03.2010
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Geschrieben am: 09.12.2010 um 02:36 Uhr
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Hahaha, herrlich, ja vortrefflich. Man faehrt direkt mit! Schoen die Kritik an unserer faulen vermaschinierten Welt.
Es muss immer schneller und schneller gehen, jeder meint, Zeit sei Geld, und Geld habe man nicht.
Einmal nur soll jemandem bewusst werden, dass wir genug Zeit haben, es uns aber immerdar von Dingen oder Menschen gestohlen wird. (Ja, Michael Ende hatte dieses Problem schon 1973 in "Momo" dargestellt. Immer diese vielen grauen Herren und die Zeitdiebe...)
Lob von mir. Super geschrieben.
Licentia poetica
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Morrigane
Profi
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Dabei seit 07.2006
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Geschrieben am: 09.12.2010 um 08:15 Uhr
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Der allererste Abschnitt: Weltklasse. Ich musste vor lauter Kuriosität erstmal laut schmunzeln. :)
Deine sprachliche Ausführung lässt nichts zu wünschen übrig, auch hier treibst du deine Formulierungen wieder präzise auf die Spitze.
Ein bisschen schade finde ich, dass es nur eine "Predigt" ist, und du quasi in gerader Linie über wömogliche Wendepunkte hinweg zum "Happy End" schlitterst, es also keine plötzlichen Überraschungen gibt, sogar das Ende kann man sich vorstellen, wenn man ein paar Sachen von dir gelesen hat. Andererseits kannst du dir das sogar leisten, ohne das die Geschichte daran verliert.
Lecker Senf für alle!
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I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte
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Geschrieben am: 09.12.2010 um 14:06 Uhr
Zuletzt editiert am: 09.12.2010 um 14:09 Uhr
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Wow, was soll ich sagen? Dankesehr. Obwohl ich was ganz anderes erwartet habe. In der ganzen Nacht und noch heut' morgen hab' ich gedacht, Nein, war viel eher davon überzeugt, dass ich hiermit auf ganz schön negative Reaktionen treffen würde. Während dem Schreiben kam mir die Sprache so banal vor, also wollte ich Lichtblicke einbauen, wie die "Flügel" am Rad. Wenn ichs jetzt nochmal durchlese ist es sogar verständlich, nicht viel zu sehr vom roten Faden abweichend, wie ich dachte.
Eigentlich verging mir während dem Tippen nur die Muse, nur die Lust, also hab' ich die Erzählung schnellstmöglich beendet. Weil das Ganze dann aber so komisch aussah, hab ichs noch verpackt, eine Rede daraus gemacht, um einen Gedanken, den ich schon seit längerem habe, hiermit anfangen kann umzusetzen.
Wenn ich anfange ins Detail zu gehen, beim Schreiben, dann entfällt mir meist all das, was ich noch sagen wollte, noch erzählen wollte, weswegen die Wendung, Morrigane, nun wohl fehlt.
Die Idee kam mir beim Lesen von "Wolf"s Linie 4, worin sich der Satz, "da fährt man lieber Rad" (oder so) und in der späteren Diskussion noch die Aussage, dass man im Winter ja nicht Radfahren kann, versteckt.
Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf
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