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Forum / Poesie und Lyrik

Die Papageienfrau

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 09.09.2010 um 20:04 Uhr
Zuletzt editiert am: 09.09.2010 um 20:36 Uhr

Die Papageienfrau

Vielleicht hatten sich die Engel nur einen üblen Scherz erlaubt, ich hingegen meine, dass sie schlicht dem Größenwahnsinn anheim gefallen sind. Wie jede Lebensform, die sich den steinigen Weg zum Bewusstsein freigekämpft hatte, waren sie voller Sehnsucht nach einem Wesen, dass ihnen ähnlich war, das sie nach ihrem Bilde schaffen wollten und dem sie jenen leidigen Weg zum Bewusstsein ersparen wollten. Das Majestätischste, was sie unter der Sonne fanden, waren der Mensch und der Vogel.
Tag und Nacht wälzten sie Bücher.
"Es soll das größte und schönste Wesen unter der Sonne werden, liebe Brüder. Uns soll es gleichen.", sprachen sie.
"Mensch und Vogel soll es sein. Vom Menschen soll es Geist und Antlitz erhalten, aber Schwingen und Sehnsüchte eines Vogels."
So sprachen die Engel. Man erkennt sie an den großen Worten, die sie schwingen, selbst dann, wenn sie unter sich sind. Von ihrem eigenen Glanz geblendet, machten sie sich ans Werk. Leider sind die Engel Visionäre, aber keine Großmeister der Genetik.
Als die Zeit reif war, stand ihr Geschöpf schwankend. Die winzigen Füße vermochten das Gewicht des zerbrechlichen Körpers kaum zu tragen, während die fast wie bei einem Contergankind verkrüppelten Arme zusammengekrampft vor der Brust gehalten wurden. Die Hände hingen schlaff nach unten, aber die Finger bewegten sich wie die Krallen eines Vogels flink und zugleich willkürlich. Die Papageienfrau hatte den Mund geöffnet, so dass eine Reihe großer, gelber Zähne unter der scharfen, schnabelförmigen Nase sichtbar wurden und ihr Blick war wach und klug. Die wasserfarbenen Augen lagen tief wie bei einer Alten, sie war blass und sie hatte dieselben kleinen Fältchen in der dünnen, ledrigen Haut um die Augen, wie ein Ara. Die Mimik war fein und ausgeprägt in dem scharf geschnittenen, alterslosen Gesicht. Sie konnte kein Wort sprechen, auch keinen Schritt gehen und nicht alleine auf's Klo, aber man konnte jeden Gedanken aus den seltsam flinken Augen lesen. Sie war wie ein Vogel, der im Körper eines Menschen gefangen war, oder wie ein Mensch im Körper eines Vogels.
"Nein", sprachen die Engel: "das ist keine von uns. Das ist nicht das Ebenbild, das wird uns schaffen wollten. Sie soll zu den Menschen, wir wollen sie nicht hier."
So sprachen die Engel. Manchmal sind sie blind von ihrem Glanz.
Der Mensch, der kein Vogel war, aber auch nicht Mensch genug um mit den anderen zu leben erhielt einen Rollstuhl und die Bezeichnung "alternativ begabt". Was diese Bezeichnung bedeuten sollte, wussten die Menschen auch nicht, aber es war ein schöner Euphemismus. Vielleicht bestand die einzige Begabung darin, den Engeln ihren Größenwahn zu verzeihen und glücklich zu leben.

morrigane
2010

Lecker Senf für alle!

bollerwagen - 43
Profi (offline)

Dabei seit 10.2006
787 Beiträge

Geschrieben am: 09.09.2010 um 20:13 Uhr

Gefällt mir.... des hat was!!

Schönheit liegt im Auge des Betrachters!!!

einesnoch
Anfänger (offline)

Dabei seit 09.2010
1 Beitrag
Geschrieben am: 10.09.2010 um 20:49 Uhr

Ich habe deine Werke schon immer bewundert, wirklich.

Engel sind übrigens nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Der Mairegen trübt manchmal den Blick auf ihre wahre Natur.
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