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Forum / Poesie und Lyrik

Familientreffen der Klischees

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 14.08.2010 um 17:47 Uhr


Familientreffen der Klischees


Den Bereich mit den kyrillischen Buchstaben hatte sie immer großzügig umschritten. Es war kein Hindernis im klassischen Sinn, denn sie hätte ohne Mühe mitten hindurch laufen können. Aber sie vermied es scheu und da kostete es sie jeden Morgen etwa zwei Minuten ihrer Lebenszeit. Innerhalb von zwei Jahren wären das immerhin schon knapp vierundzwanzig Stunden und das hätte vermutlich locker ausgereicht, um zumindest zu lernen, die fremden Schriftzeichen in lateinische Buchstaben zu übersetzen. Dann wären die Wortungetüme vermutlich nicht so riesenhaft und bedrohlich gewesen und die Plakate hätten vielleicht ihre drohenden Blicke aufgegeben. Zumindest die Fremdwörter der Sprache hätte sie verstehen können, hätte sie sie in lateinischen Buchstaben vor sich gehabt. Aber das Gelände blieb ein Fremdkörper.

In den ersten drei Monaten hatte sie sich daraus ein Spiel gemacht, das Gelände zu ignorieren. Sie trug keinen Hass mit sich und die Angst, die später dazu gekommen war, hatte sie selbst erfunden, nur dass sie mittlerweile eine reine Gewohnheitssache war. Diese kostbare Angst war der kleine Luxus ihrer heilen Welt. Sie war der sanfte Wind von Abenteuer, der durch die alten Gemäuer flüsterte. Ein Leben, das noch gefährlich war, oder so. Sie hatten die Köpfe der Statuen und Denkmäler, die auf dem Boden herumlagen und von Erosion zerfressen wurden noch nicht aufgeräumt und ihre steinernen Augen waren trotz der herrischen Mimik von ratlosem Entsetzen erfüllt.

Nach sechs Monaten wurde der größte dieser Köpfe, der ganz an der Grenze lag zu ihrem engsten Vertrauten. Er musste im früheren Leben ein strenger Mensch gewesen sein, aber der Regen hatte seine Züge weicher gemacht und seitdem er kopflos war, hatte er sogar etwas Lächerliches, mit seinem üppigen Bart, der hohen Stirn und den wirren Haaren, die den ganzen Kopf umrahmten. Sie besuchte ihn nach der Arbeit und schenkte ihm die zwei Minuten, die sie damit verschwendet hatte, den direkten Weg durch das Gelände zu vermeiden. Aber er wurde nicht so recht froh an ihrer Gesellschaft, denn seine Augen blieben starr und blicklos.

Einmal stürmte es in der Nacht und sie ging ihn besuchen. Es war schrecklich kalt. Sie hatte den Mantel mit dem Pelzkragen angezogen und war sehr froh darüber, denn nach einer Weile begann es winzige, stechende Schneeflocken zu schneien, die auf dem Boden liegen blieben. Der Schneesturm beschleunigte ihre Schritte noch. Als sie ankam, hatte ihr Vertrauter einen zarten Bart aus Schnee. Der Schnee bedeckte bald auch die Köpfe der anderen, und so fand sie den Mut, sich mitten zwischen die Häuser zu wagen. Es mussten die Buchstaben sein, die sie glauben ließen, sie befände sich in einer anderen Welt. Aus den Häusern drangen gedämpfte Stimmen. Sie hatte Angst, mitten im Schnee zu fallen, aber noch mehr Angst hatte sie davor, gesehen zu werden. Manche der Fenster waren hell erleuchtet, andere hatten den matten Schein von Petroleumlampen. Es war ein Gefühl, wie an Weihnachten an den erleuchteten Häusern vorbei zu laufen, vorbei an glücklichen Menschen, die vergessen hatten, dass andere draußen erfrieren könnten. Und es war zu hell in den Plattenbauten, als das man überhaupt nach draußen sehen konnte. Sie stapfte durch den immer höher anwachsenden Schnee, der die Köpfe mittlerweile vollständig verbarg. Sie sah zwar die Menschen nicht, aber sie hörte ihre Stimmen. Sie sangen. Alle sangen sie dieselbe, gedämpfte Lied. Ob es ein Lied für Kinder war? Sie dachte an russische Geheimagenten, die ihre Kinder in den Schlaf sangen. Der Schnee war bereits höher als die Türen und so konnte sie mühelos in die Fenster des ersten und zweiten Stocks blicken. Sie sah Kinder in Schlafanzügen, die Geschenke auspackten, alte Frauen mit Nähmaschinen und Männer mit Zeitung. Und über ihnen allen hing ein Bild des Weihnachtsmannes, der dasselbe Gesicht hatte, wie der Kopf, nur freundlicher. Niemand sah sie. Es wurde kälter und der Schnee härter. Schließlich legte sie sich hin und wartete auf den Schlaf. Sie wagte es nicht, an die Fenster zu klopfen und um Einlass zu bitten.

Als sie zu sich kam, lag sie auf dem Steinkopf, zusammengerollt, neben seinem Ohr. Es war wieder Juni und ein freundlicher Passant hatte sie geweckt. Er hatte sehr schmale Augen und sprach in einer weichen, dunklen Sprache, die sie nicht verstand. Er wohnte in keinem der Häuser, die standen ohnehin leer, aber auf seinem T-Shirt grinste der Kopf eines sehr bärtigen Mannes.

morrigane
2010

Lecker Senf für alle!

Heero - 37
Halbprofi (offline)

Dabei seit 10.2005
150 Beiträge

Geschrieben am: 14.08.2010 um 17:57 Uhr

Sehr schön gemacht, vor allem gibt der Titel der Geschichte erst ihre wirkliche Bedeutung. Ich denke die ganzen Bilder die du damit in den Köpfen der Leser erzeugst sind ausdrucksstärker als die mancher Autoren. Also von meiner Seite aus: Super, weiter so

"Ich wirke 'Goldenes Leuchten' auf die Lampe dort.....ääh halt"

pyrus - 37
Halbprofi (offline)

Dabei seit 10.2005
172 Beiträge

Geschrieben am: 14.08.2010 um 18:12 Uhr
Zuletzt editiert am: 14.08.2010 um 18:12 Uhr

Zitat von Heero:

Sehr schön gemacht, vor allem gibt der Titel der Geschichte erst ihre wirkliche Bedeutung.


Auch wenn du es wohl nicht so gemeint hast, aber das ist eher eine tiefe Abwertung gegenüber dem Inhalt, wenn allein der Titel dem Ganzen Bedeutung verleiht ;-)

Ich würde mich eher als "Fachmann" für Lyrik betrachten, daher will ich mich hier auch mit Kritik ein wenig zurück halten. Du hast auf jeden Fall ein großes Talent. Deine Formulierungen sind einfach erstklassig. wortgewandt lässt du dem Leser gar keine Wahl als tief in die Geschichte ein zu tauschen. Vor allem dein Liebe zur malerischen Beschreibung von Details wird hier finde ich ganz klar deutlich und verleiht Tiefgang.

Das ein zigste was ich an negativer Kritik anbringen könnte ist, dass ich manche Sätze zu überladen finden. Nicht in ihrer länge, sondern in Form der Anzahl verwendeter Adjektive wie z.B.

"von Erosion zerfressen wurden noch nicht aufgeräumt und ihre steinernen Augen waren trotz der herrischen Mimik von ratlosem Entsetzen erfüllt. "

steinern ... herrisch ... ratlos so kurz hinter einander Wirkt das finde ich bisschen Überladen. Sonst wie gesagt wirklich top ;-)

"Warum aufhören, wenn ich's gerade zum Kotzen finde?" - Douglas Adam's "Marvin"

Heero - 37
Halbprofi (offline)

Dabei seit 10.2005
150 Beiträge

Geschrieben am: 14.08.2010 um 18:22 Uhr

Jop hab eigentlich gemeint das wenn man den Titel nach einmaligen Lesen sich nochmal durch den Kopf gehen lässt erst die Intention erkennt war nicht abwertend gemeint, ich werd den Teufel tun und das abwerten was mir gefällt xD

"Ich wirke 'Goldenes Leuchten' auf die Lampe dort.....ääh halt"

Metal-Master
Halbprofi (offline)

Dabei seit 04.2010
140 Beiträge

Geschrieben am: 19.08.2010 um 17:38 Uhr

sehr geil, wirklich hammer, ich wünschte ich könnte so schreiben!!!

...you failed...sorry...

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