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Forum / Poesie und Lyrik

Der siebte Tag

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 27.11.2007 um 18:16 Uhr
Zuletzt editiert am: 01.11.2011 um 20:23 Uhr

DER SIEBTE TAG


Der erste Tag
Am ersten Tag schlug K. müde auf den Wecker ein. Eine neue Woche. Verdammt! Ein Tag mehr in seinem Leben. Er hätte sie zählen sollen, um sie nicht zu verlieren. Er hätte sie leben sollen, um sie nicht zu verschwenden. Vor und hinter ihm lag eine Masse Zeit, die auf ihn drückte. K. schaltete das Licht ein. Die Dunkelheit floh rasch.
K. war der festen Ansicht, dass Dunkelheit nicht etwa das Fehlen des Lichts war, sondern ein Eigenleben besaß. Die Dunkelheit war wie ein großes, lichtscheues Tier, das in den Ecken seines Zimmer hockte und darauf wartete, dass er sich zu weit in die Nacht hinein wagte. Dann würde sie ihn anfallen und ihn bis auf die Knochen abnagen, so das nichts mehr von ihm übrig bliebe, als ein unsichtbarer Berg von halbgelebten Tagen.
Mit diesem düsteren Gedanken im Kopf stand K. auf und ging zur Arbeit.

Der zweite Tag
Am zweiten Tag war er ihr in der Straßenbahn begegnet, sie hatte ihm gegenüber gesessen Lange und schwarze Haare hatte sie, und ein sphinxhaftes Lächeln. K. wusste, dass sie schön war. Sie hatte kein besonders ebenmäßiges Gesicht, keine vollen, prallen Lippen, keine riesigen Augen und nur eine durchschnittliche Figur. Aber sie war schön auf eine rätselhafte, katzenhafte Weise. Ihre Schönheit hatte nichts von der langweiligen, leeren Schönheit, wie sie manche Models besaßen. Ihre Schönheit war nicht belanglos wie die Schönheit der Frauen, mit denen sich Filmstars und Playboys umgaben. Sie schien aus ihr zu strahlen und lag in allen ihren Bewegungen. K. hatte sie die ganze Fahrt unauffällig beobachtet und als sie ausgestiegen war, hatte sie ihm ein Lächeln geschenkt, in dem die Schönheit und Anmut des ganzen Himmels lag. Für einen winzigen Augenblick hatte K. das Leben gespürt.

Der dritte Tag
Am dritten Tag fuhr K. erschrocken auf. Er war im Traum in die Tiefe gestürzt, endlos, im freien Fall. Im Traum war geflogen und hatte die Augen geschlossen gehabt. Als er sie öffnete, lag das Meer unter ihm und glänzte rätselhaft. Da war er erschrocken und hatte das Gleichgewicht verloren. Wind kam auf und zerrte an seinen Flügeln. Dann war er abgestürzt.
Schlaftrunken und vom Schreck noch immer ganz steif, stand er auf und ging ins Bad.
Als er eine halbe Stunde später in die Straßenbahn stieg, saß SIE schon da. Er setzte sich ihr gegenüber und die ganze Fahrt über sahen sie sich schweigend und unauffällig an. Deine Augen sind glänzender als ein Ozean, in dem sich die Sonne spiegelt, dachte er.

Der vierte Tag
Am vierten Tag sprach sie ihn an. "Sagen, Sie, mögen Sie eigentlich klassische Musik?" Er wusste nicht, was er antworten sollte und zuckte unsicher die Schultern. "Am Sonntag", fuhr sie fort: "gebe ich ein Klavierkonzert im Stadthaus. Ich würde mich sehr freuen, Sie zu sehen." Er sah sie etwas verwundert an. "Sie spielen Klavier?" sagte er, weil ihm nichts besseres einfiel. Sie nickte und lächelte ihn vielsagend an: "Liebeslieder aus drei Jahrhunderten. In neuer Fassung." "Ich werde kommen!" versprach er glücklich, und als sie die Straßenbahn wie immer vor ihm verließ, saß er noch lange wie verzaubert da und starrte auf die Bank, auf der sie gesessen hatte. In der Nacht konnte er nicht schlafen. Er lag wach in seinem Bett und starrte in die Nacht hinein. Aber diesmal konnte ihn die Dunkelheit nicht angreifen.

Der fünfte Tag
Am fünften Tag wachte K. müde und zerschlagen aus einem kurzen Schlaf auf. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen und als er nun aus dem Fenster sah, war alles nass, grau. und öde, so wie sein Gesicht, das er langsam im Spiegel verwittern sah. Er hatte diesen Prozess schon oft beobachtet. Manchmal gab es Tage, an denen schien es löchrig und halb verwest. Aber K. wusste, dass, wenn es erst gänzlich abgefallen war, darunter ein neues zum Vorschein kam. Sein Gesicht war wie die Natur, ein endloser Kreislauf aus Wachsen und Zerfallen. Er wusch sich sorgfältig und versucht ein paarmal vor dem Spiegel zu lächeln. Es misslang. Heute ist wieder ein Sterbetag, dachte er. Sterbetag, Verwesungstag. Aber es wird auch wieder schöne Tage geben. Bald wird dieses alte Gesicht abfallen.
Er verließ das Haus und ging zur Straßenbahn. Sonntag, dachte er, und freute sich.

Der sechste Tag
Am sechsten Tag dachte K. über sein Leben nach. Er stellte fest, dass er alles, was er gelernt hatte, durch den Schmerz gelernt hatte. K.s Leben war eine einzige Aneinanderreihung von Hoffnung und Enttäuschung. Schmerz hatte ihn gelehrt, nicht zu vertrauen und wenn, dann niemals stolz auf die Zuneigung einer anderen Person zu sein. Denn wenn er stolz darauf war, dann hatten sie ihn verlassen, weil sie fürchteten, dass er sie gar nicht wirklich liebte. Er hatte gelernt, dass er so wenig "Ich" wie möglich besitzen durfte; das war der Schlüssel zur Zuneigung anderer. Im Gegenzug für seine vollständige Aufopferung erhielt er das Minimalmaß an Aufmerksamkeit, das er zum Leben brauchte.
K. ging zum Spiegel und sah hinein, wie so oft, wenn er über sein Leben nachdachte. Heute war keine Arbeit und so blieb er fast eine Stunde vor dem Spiegel und dachte nach. Und während er dachte wurde sein Gesicht immer älter. Es gab keinen Grund für ihn, auf ein besseres Leben zu hoffen. Wenn überhaupt, dann war er der einzige, der sein Leben zum Positiven verändern konnte. Und er hatte es noch nie geschafft. Womit hatte er es verdient, dass da wieder eine Hoffnung auf ihn wartete, um ihn zu narren?

Der siebte Tag
Am siebten Tag war ein Sonntag. Am siebten Tag trank K. ein Glas Wasser, sah kurz in den Spiegel und hängte im Wohnzimmer einen Strick an die Wand. Dann stieg er auf einen Stuhl, knotete eine Schlinge, legte sich dies um den Hals und stieß den Stuhl fort.

Der achte Tag
Am achten Tag saß eine Frau mit langen schwarzen Haaren alleine in der Straßenbahn. Sie wirkte müde und ein bisschen niedergeschlagen.

c) by Morrigane


>Gerade weil ich weiß, dass meine Geschichte auf den ersten Blick irritierend wirkt, würde ich mich sehr über ehrlich gemeinte Kritik freuen.

Lecker Senf für alle!

luna15 - 32
Fortgeschrittener (offline)

Dabei seit 10.2005
93 Beiträge

Geschrieben am: 01.12.2007 um 10:19 Uhr

hmm...ich finde die geschichte ganz ehrlich schön...das ende ist halt ein bischien traurig....

Alberne Leute sagen Dummheiten, gescheite Leute machen sie.

Morrigane
Profi (offline)

Dabei seit 07.2006
955 Beiträge

Geschrieben am: 03.12.2007 um 17:32 Uhr
Zuletzt editiert am: 03.12.2007 um 17:35 Uhr

Zitat von luna15:

hmm...ich finde die geschichte ganz ehrlich schön...das ende ist halt ein bischien
traurig....

Hab Dank!
Nun, mein Anliegen in dieser Geschichte war es auch, die Tragik des Protagonisten
zu verdeutlichen. An seinem Tod trägt niemand schuld, sondern sein Suizid war
quasi schon durch seinen resignierten Charakter festgelegt. Es bedurfte lediglich
eines "Katalysators" (chemische Metapher *g*), dass die eigentlich positive
Situation kippte - und der Protagonist trotz der aufkeimenden Hoffnung in der Tod
ging.
Und um zu der Geschichte noch eine Botschaft hinzuzufügen: Die Umstände sind
das, was wir aus ihnen machen. Es kommt nur darauf an, wie man sie interpretiert.
Man kann aus dem schönsten Erlebnis in der Erinnerung eine Tragödie machen &
umgekehrt. So trivial das jetzt klingt, es lohnt sich ab und an mal darüber
nachzudenken. Auch wenn es in den seltensten Fällen so extrem endet, wie in
der Geschichte.

Lecker Senf für alle!

I3I_4CKNINJ4 - 35
Experte (offline)

Dabei seit 06.2005
1618 Beiträge

Geschrieben am: 14.12.2010 um 00:21 Uhr

Ich glaube, Kafka würde das Zweifeln auf ewig loben. "Mut" oder "Lob" des Zweifels könnte man sagen.
Versprich mir, dass du glücklich bist, auch wenn dich das grau vom Himmel herab zu erdrücken scheint.
Sterben, Leid und Lachen gehört zu alledem dieser Welt dazu. Aber es ist die Entscheidung deiner selbst, auch mal Lachen zu wollen.

Ich habe Angst vor dem Tod, doch wenn ich sterbe, dann freue ich mich darauf

gibbs59 - 66
Experte (offline)

Dabei seit 04.2010
1864 Beiträge
Geschrieben am: 14.12.2010 um 01:45 Uhr

Hast du es alleine geschrieben ?


Quad

Krustenbrot
Halbprofi (offline)

Dabei seit 11.2010
134 Beiträge

Geschrieben am: 15.12.2010 um 22:04 Uhr

Böse Erbsünde.

Esst mehr Krustenbrot!

yellowsong - 29
Halbprofi (offline)

Dabei seit 09.2009
220 Beiträge
Geschrieben am: 17.12.2010 um 17:26 Uhr

Ich finde es gut.
Vielleicht wäre es noch "schön" zu erfahren,
ob die Frau von dem Tod erfahren hat.


http://yellowsong.tumblr.com

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